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Dahlem, den 29.IV.42.
Mein innig
Geliebtes!
Du bist vielleicht bei Ankunft
dieser Zeilen schon von Ober-Dielbach zurück.
Dich dort zu wissen, hat für mich z. Z. nichts Anziehendes. Denn wir
haben hier seit 10 Tagen zwar immer Sonne, zugleich aber einen
eisigen Nord-Ostwind, ja oft heulenden Sturm, der entsetzliche
Staubwolken mit sich bringt. Morgens sind 0-2°. Die Vegetation kommt
nicht weiter. Die Baumblüte sieht man nur ganz selten an geschützten
Exemplaren.
Vom Privatleben ist wenig zu erzählen. Denn
nachdem die "Teebewirtungen" notgedrungen aufhören mußten, laden wir
niemanden ein. Nur gestern war
Werner
Imhülsen aus
Amsterdam eine Stunde da.
Sonst nur Arbeit und monotone kleine Spaziergänge. (Am 27.IV. an
Riehls ungepflegtem Grab.)
Um so mehr fällt ins Bewußtsein, daß der Krieg in seiner ganzen
Härte nun im Lande
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| ist. Wir hier hatten zwar nur einmal
für 40 Min. Alarm. Es macht den Eindruck, daß man vorläufig an dem
Sperrgürtel von
Berlin noch planmäßig
abbiegt. Aber die frühere
Lisbeth in
Gadebusch hat
aus der Ferne
Lübeck u.
Rostock miterlebt und schaurig beschrieben. Die
Flüchtlinge überschwemmen das Land. Ähnlich scheint es in
Köln und
Kiel
zugegangen zu sein. - Ein anderes neuestes Ereignis findet auffallend
negative Beurteilung. Das Tempo scheint sich zu beschleunigen.
Jeder Gedanke an Sommerunternehmungen scheint daher verfrüht.
Patsch wäre mir auch allzu weit.
Imhülsens finden als alte Gäste wieder in
Kappel Aufnahme. Die Gegend würde mir schon
mehr behagen. Aber mich interessiert die Frage nur im Spiel der
Phantasie. Vorläufig heißt es, sich durcharbeiten durch alles. Der
Prager Vortrag ist Sonnabend/Sonntag schlecht und recht fertig
geworden. Wir fahren (mit zu beschaffender Zulassungskarte!)
Sonnabend
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| um 5 und kommen, wenn es Schlafwagenplätze gibt,
schon Montag früh zurück; sonst Montag Abend,
hoffentlich pünktlich gegen ½ 11.
Plötz hat mir angeboten, mich dem
Reichsprotektor vorzustellen;
aber so viel Zeit ist ja garnicht. Die Vorlesungen sind beinahe noch
besser besucht als im Winter, sogar
Hegel trotz Abmahnung. Das Seminar ist zunächst
schlecht angelaufen.
Wir haben einen
neuen Rektor, Orthopäden, der
eigentlich jetzt besser wo anders tätig wäre. Der
Herr Minister, der zur Übergabe
des Rektorates ausdrücklich angekündigt war, - blieb fort. Die
anwesende Generalität wartete vergebens. Im Hintergrunde liegen -
unabhängig davon - wieder die unglaublichsten Konflikte. "Das ist mir
gleich."
In der
Frau Pfarrer
Herancourt findet Dein Kreis hoffentlich eine angenehme
Erweiterung. Es ist jetzt
einer meiner
studentischen Klienten in
Heidelberg.
Aber ich empfehle ihn nicht. Wenn er schreibt, ist er schizophren,
und wenn er redet,
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| langweilig. - Sind Dir eigentlich die neuerdings überwiesenen 300
M signalisiert worden?
Ein entzückender
Enkel von
Tirpitz ist mit 18 Jahren
umgekommen. (
St. Nazaire), und der
älteste Sohn von
Tietjen (
Lüneburg) ist gefallen. Er zeigt es an, obwohl wir
seit 7 Jahren keine Verbindung mehr hatten.
Frl. Mai ist nach einem
Schlaganfall nach
Buch überführt worden; es
ist kein Glück, wenn man stückweise stirbt.
Ich werde jetzt
noch für 20 Min. in meine Abendlektüre gehen, die ich vor Jahren von
Dir erhalten habe:
Gotthelf,
Geld und Geist. Das stammt aus anderen Zeiten.
Ich grüße Dich
herzlichst und hoffe, bei der Rückkehr von Prag gute Nachrichten von Dir zu finden, auch zu
hören, wie es in Ober-Dielbach geht. - Nach
einem sehr schweren, sehr gelungenem 2stündigen Kolleg bin ich heute
besonders müde.