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Heidelberg. 10. Okt.
1943.
Mein geliebtes Herz!
Mir ist, als hätte ich Dir sehr lange nicht geschrieben, aber die
Tage gehen in ihrem Gleichmaß so schnell, daß man ganz das Zeitgefühl
verliert. Heute aber ist Sonntag, und Du hast ihn mir ganz besonders
verschönt durch die Sendung des
Goethebuches. Ich denke dabei an
Königstein – – ach, und wie fern liegt das schon!
Ist es nicht, als wäre es Jahre her? Heute ist eine ganz andere Welt,
und man fühlt sich wie angeschmiedet. Nicht jeden Tag ist man dazu
fähig, sich innerlich frei zu ringen, und es bleibt bei der Flucht in
die tägliche Arbeit. Wenn es nur immer etwas "Tüchtiges" sein könnte!
– Sehr oft bleibt es eben doch bei der "Sehnsucht ins Ferne", und da
ist dann Brief und Sendung von Dir ein tröstliches Balsam. Habe
vielen Dank!
Es ist mir im Anschluß an jene so bedeutungsvolle
Niederschrift von 1905 noch viel
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| durch den Sinn gegangen,
und in aller äußeren Unsicherheit ist eine große stille Gewißheit in
mir von der Sinnerfülltheit unseres Lebens. Denn die gleiche
prophetische Schau, die damals aus Dir sprach, fand in mir als
Forderung ein Gegenbild, wenn ich wartete auf die Gestaltung einer
neuen Religion. Es war mir geradezu wie die Erfüllung als Du mir
damals die "Weltfrömmigkeit" schicktest. Es war mir nie so klar
geworden im Laufe der allmäligen Entwicklung.
Und dann: die
persönliche Bestimmung! Wie oft habe ich in den früheren Jahren
unsrer "Höhenwanderung" das Gefühl gehabt, daß wir am Abgrund gehen,
daß ich Dich vor Gefahr bewahren möchte. Und jetzt? Jetzt ist das
Leben auch äußerlich an den Rand des Abgrunds gekommen und man hat
nicht die Macht, den andern zu behüten. Aber ein fester Grund ist
geblieben, an den auch die zerstörenden Mächte der Gegenwart nicht
heran können und aus ihm wollen wir uns immer von neuem Kraft
holen.
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Im allgemeinen ist ja das Damoklesschwert
hier nicht viel fester aufgehängt, wie bei Euch. Man ist nicht erbaut
davon, daß alle möglichen Betriebe von
Mannheim hierher verlegt sind. Doch ist vorläufig
bei uns noch nichts Ernstliches geschehen. Am vorigen Montag hatten
wir innerhalb von 24 Std. 4x Alarm, davon einmal nur Voralarm. – Mit
der Evakuierung
des Vorstands
ist es noch nicht weiter gekommen, als daß
Winters, die in
Wiesbaden wohnen, es ablehnen, sie aufzunehmen. "Es
sei auch viel besser für sie, in dem Verband zu bleiben, in dem sie
jetzt lebe." – – – –
Es sind jetzt
Fragebogen dagewesen wegen der Wohnräume. Bei Beginn des Krieges
wurden ja z. B. in
Karlsruhe ältere Leute
fortgeschafft. Ich glaube ja nicht, daß man das wieder tun wird. Aber
auf alle Fälle habe ich mich gleich damit zu sichern gesucht, daß ich
Prof. Engelking bat, mich auf
die Arbeit bei ihm in der Klinik berufen zu dürfen. Und nur im
äußersten Notfall möchte
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| ich mich in meine liebe
Vaterstadt
Berlin flüchten, um nicht in
irgend ein Spittal gesteckt zu
werden, wie es Damen aus
Mannheim geschehen
ist, die im
Elsaß zu sechs in einem Zimmer
hausen. Im Grunde ist es freilich so, daß – wie ich heute sagen hörte
– man froh sein muß, wenn man das nackte Leben rettet. – Vorläufig
ist mein "nacktes Leben" noch recht gut versorgt und Du kannst
darüber ganz ruhig sein. Es wird mir wiederholt gesagt, daß ich viel
wohler aussehe, als in letzter Zeit. Bei Dir scheint es leider nicht
der Fall und ich bedaure sehr, daß ich Dir in Zukunft nicht mehr
Dextropur verschaffen kann. Es wird nicht mehr geliefert. Ich nehme
noch immer Lebertran und Priovit, außerdem ist das Essen gut, das ich
mir koche.
Gestern habe ich nun das Kistchen mit den 3 letzten
Flaschen Wein abgeschickt, die noch immer bei mir im Keller lagen.
Und nun ist die Frage: soll ich auch den "Erdgeist" schicken und den
Vortrag für die Wehrmacht? Viel sicherer als bei Euch sind ja die
Sachen hier
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| auch nicht und außerdem ist wohl beides nicht
unersetzlich. –
Draußen ist ein beispiellos schönes
Herbstwetter. Es lockt hinaus, aber es ist nicht mein Fall, allein
spazieren zu gehen, und ich bin überhaupt nicht gern immer den ganzen
Tag allein. Am besten verstehe ich mich eben mit
Hedwig Mathy, die aber so weit
weg wohnt und außerdem nächste Woche verreisen will nach
Waldkirch. Aus meiner Absicht mit
Dielbach ist noch nichts geworden. Ich möchte
dorthin noch einige Sachen mitnehmen, um nicht alles an einer Stelle
zu haben. –
Ruges sind in
Berlin. Auch
Hilde, die jüngste Tochter, die als Schwester im
Dienst in
Karlsbad war, entzückt von der
Gegend. Von
Mädi hatte ich
heute Bilder von
ihrem
Jüngsten, der aber keine Schönheit ist. Sie ist nach einem
bewegten Sommer wieder auf
Rügen mit den zwei
Jungen.
Heinz muß eine Stunde
weit gehen zur Schule.
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| Wie das im Winter werden soll ist
schleierhaft.
Einen erfreulichen Brief hatte ich von
Häbler. Er ist wieder voll im
Schuldienst und ist Direktor der Mädchenerziehungsanstalt in
Tüllingen bei Lörrach.
Und Ihr wart
bei
Sabines Hochzeit? Möge sie
bei diesem Lebensplan länger aushalten als bei
der vorherigen. – – Die
Idee von
Lore wegen des Bildes mahnt etwas an nicht arische
Abstammung! Oder stimmt das nicht bei ihr?
Ich will jetzt den
Brief noch fortbringen. Darum nimm Vorlieb mit diesem Gemisch und laß
Dir nur noch Dank und viele Grüße sagen. Auch
Susanne danke ich herzlich für
Verpackung und Sendung des
Goethebuches.
In stetem
Gedenken
Deine
Käthe.