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Heidelberg.
21.I.1945.
No. 4.
(No. 3 mit
Kalender) Mein geliebtes Herz,
zu
meiner Freude kam am Freitag der vermißte (7.) Brief doch noch an,
geschrieben am 6. Dez. – Wo mag er sich aufgehalten haben?! – Aber
was er über dein Befinden meldet, konnte mir keine Freude machen,
sondern nur die Besorgnis verstärken, die mir dein ewiger Katarrh
ohnehin schon machte. Was hat denn
Kurzrock gesagt? Was tust Du dagegen? Wenn es nicht
noch wahrscheinlichere Gründe gäbe, würde ich sagen, aus lauter
Sympathie habe ich mir auch so etwas zugelegt. Aber es ist bei dem
häufigen Fahren in der überfüllten Elektrischen, wo man aus nächster
Nähe von Hustenden und Krächzenden angefaucht wird, bei dem täglichen
Aufenthalt im Keller, wo
Familie Dürre
stets von Katarrh überfließt hat das ja einen sehr handgreiflichen
Grund. Ich hatte mich lange tapfer dagegen gewehrt, und habe der
Sache auch gleich mit Aspirin die Heftigkeit
genommen, sodaß es bei einer leichten Stirnhöhlenentzündung
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| blieb. Aber die Mattigkeit, über die Du klagst, habe ich auch
und es artet in eine wahre Schlafsucht aus. –
Inzwischen wirst
du hoffentlich endlich den Hintergrund zu dem Wochenkalender bekommen
haben.x [li. Rand] x Brief 3. Er ist dürftig genug an Schmuck
ausgefallen, aber er ist mit viel lieben, treuen Gedanken gearbeitet.
Es ist eine Devise, die wir in diesem Jahr wohl gebrauchen können.
Denn wohin wird uns das Schicksal führen? – Zunächst dehnt es die
Entfernung zwischen uns ins Unbegrenzte, denn vom 28. ab fahren keine
durchgehenden Züge mehr. Ich habe ja von vornherein nicht die Absicht
gehabt, hier freiwillig fortzugehen, aber wenn ich obdachlos werden
sollte, dann würde ich doch streben, nach Berlin zu kommen. Sage mir doch, wäre Dir das auf
alle Fälle recht?
Nach einer ziemlich ruhigen Zeit haben wir
eben wieder viel Einflüge – über uns weg. In
Mannheim fallen immer noch Bomben, daß bei uns die
Wände beben und die Vorhänge flattern. Und es ist besonders störend,
daß das
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| immer um die Zeit geschieht, wenn man kochen und
essen will. – Heut am Sonntag ist nach zwei fast schneefreien Tagen
wieder erneuter Schneefall eingetreten. 13½ cm liegt er bei mir vor
dem Fenster und noch hört es nicht auf. Dabei ist es nur gerade auf
dem 0Punkt mit dem Frost; aber da die Sonne verhüllt war, blieb der
Schnee doch liegen und wer irgend kann, genießt den Sport.
Ich
werde nachher mit Gummistiefeln zu
Drechslers gehen und diesen Brief mitnehmen. Es
wird dort
der Sohn anwesend
sein, der aus
Italien (Riviera) in Urlaub
ist. Auch die kranke
Tochter
ist nun bei der
Mutter, aus der
Klinik entlassen. Möchte sie nun keinen Rückfall wieder bekommen. –
–
Gleichzeitig mit dem verspäteten Brief von Dir kam am
19. einer von
Hermann,
geschrieben am 14., dagegen bekam ich von
Walter auch jetzt einen Brief
vom 17.XII. und von
Lieschen
Schwidtal eine entrüstete Karte vom 19.XII. wegen angeblichen
nicht Schreibens. Das war
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| aber nicht der Fall, es scheint
dem nach die Post in
Kurhessen besonders
miserabel. Das machen wohl die vielen Angriffe am Main. – Auch heute
waren sie vermutlich wieder dort nach den Meldungen, während sie in
unsrer Gegend nur im Vorbeigehen einen Gruß abgaben. –
Soweit
mich abends nicht die müden und schmerzenden Augen hindern, lese ich
die
Shakespeareschen
Königsdramen. Es ist ungeheuer zeitgemäß, sodaß es mich oft auch
zwingt, das Buch zu schließen vor Herzbeklemmung. Und was hört man
täglich an erschütternden Tatsachen! – Wie mag es
Anna Weise in
Breslau gehen? Gestern kam von ihr ein Brief vom
15.XII. Und wie hat sichs seitdem verändert dort! Sie schreibt sehr
gefaßt, aber schmerzlich resigniert. –
Ich denke stündlich an
Dich – oft mit sehnsüchtigem Verlangen. Vor allem aber mit innigen
Wünschen für dein Wohl. Grüße auch
Susanne sehr herzlich und sei Du ganz besonders
gegrüßt von