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Tübingen, den 17. Mai
1947.
Meine einzige Freundin!
Der Briefbogen ist nicht ganz tadellos; aber man muß sparen. –
Über den
Heinrich Mann stimme
ich ganz mit Dir überein. Ich habe es
Eddi Biermann fast übel genommen, als er ihn mir bald nach dem
Erscheinen schenkte. Jetzt ist der Schmarren noch auf dem Seminar: er
gehört zu den wenigen Büchern, die ich nicht wieder in mein Haus
bringen wollte. Diesen "Mann" haben soeben die Berliner zum
Ehrendoktor gemacht. Da sieht man gleich, aus welcher Kiste die
sind.
Der Stundenplan liegt bei. Das sieht nach viel freier
Zeit aus. Aber da
alle 3 Gegenstände eine
völlig neue Form erfordern, reichen die Stunden, über die ich
verfügen kann, nicht zur Vorbereitung aus. Im Augenblick geht
wirklich der Betrieb über meine Kräfte. Es kommt nämlich fast jede
Woche noch etwas extra hinzu. In der vorigen Woche war es etwas sehr
Erfreuliches. Am Freitag 11.V. nach m. Vorlesung war plötzlich der
Theo (
Moabit) da. Seine Anmeldung kam erst, als er
abreiste. Er blieb 3 Tage, die für mich leider mit anderem sehr
besetzt waren. Aber wir konnten doch auf dem Schloßbergrücken, dann
durch den Wald, bis zum Fuß der berühmten Kapelle gehn; die 3 anderen
stiegen dann noch hinauf. Für mich waren die 1½
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| Stunden
hin und 1½ zurück eigentlich schon zu viel. (Herz!) Theo schlief und
aß bei uns (letzteres auf Grund von Paketen.) Am Montag 11.23 fuhr er
nach
Freiburg weiter. Ich liebe diesen
gütigen Menschen ganz unbeschreiblich.
Hinterher war
natürlich alles liegen geblieben. Aber seit 3 Tagen kommt wöchentlich
eine Schreibhilfe. Das war dringend nötig; sonst käme ich nicht
durch. Es ist jetzt nach der ersten Glückseligkeit überhaupt die –
unvermeidliche – Zeit eines
gewissen
Rückschlages. Die Hauptvorlesung mit ihrem auffallend schwachen
Besuch zeigt, daß die Mehrzahl doch Examensstoffe geliefert haben
will. Die Sache macht mir, der ich seit Jahrzehnten durch volle
Häuser verwöhnt bin, deshalb weniger Freude. Trotzdem behaupte ich,
daß ich in der Art, wie ich besonders das Thema Volksmoral behandle,
zum ersten Mal an den entscheidenden Problempunkt herankomme, der
zugleich der Wurzelpunkt unsres nationalen Elends ist. Die eigentlich
Urteilsfähigen merken das wohl auch. Im allgemeinen zieht man aber
hier Leckerbissen dem Nahrhaften vor.
Oesterreich hat einen kleinen
Schlaganfall gehabt, der
Frau
und
Tochter mit Recht
beunruhigt hat. Er hat einen enormen Blutdruck. Ich habe ihn in der
Klinik besucht. Die Sprache ist ein bißchen behindert.
Den
Inhalt der "Kulturpathologie" kann ich
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| Dir nicht mit
wenigen Worten andeuten. Der Vortrag ist ein Kunststück
vielverschlungenen Aufbaues. Da mußt Du schon warten, bis Du ihn
gedruckt bekommst. Wie lange das dauert, kann man heutzutage nicht
voraussagen. Hingegen ist die "Magie der Seele" in
Gotha fertig, und die Sendung eines Exemplares an
Dich ist angeordnet. Ein oder zwei von der
hiesigen Ausgabe (ohne Wel
[über der Zeile] tfr.) erhältst Du, wenn sie fertig
geworden – sein werden.
Es beunruhigt mich, daß Du keine
Kartoffeln mehr hast und daß auch die anderen Rationen herabgesetzt
sind. Kannst Du nicht durch
Matussek etwas erhalten? Spare nicht, sende mir die
Rechnung!
Auf dem
Hohen-Asperg
befindet sich, nunmehr erwiesenermaßen, –
Herr Bäumler, der durch
seine Assistentin in
Berlin hatte verbreiten lassen, er sei
gefallen (!!) Für harmlosere Internierte in
Ludwigsburg soll ich einmal sprechen. Am 22.V. habe
ich einen überflüssigen Extravortrag "Aus der wissenschaftlichen
Werkstatt", am 6. Juni ein von
Hrn.
Cheval bestelltes Referat über den jungen
Nietzsche (dgl.)
Alle
diese Faktoren sind nun nicht gerade sehr sehr erfreulich in Hinblick
auf unser höchst nötiges und ersehntes Wiedersehn. Es gibt dazu 3
Möglichkeiten. Die beste wäre für die Schonung Deiner Kräfte, wenn
ich nach Heidelberg kommen könnte. Dazu
gehört ein Paß für mich, der schwerer zu haben wäre als für Dich,
seltsamerweise. Die Stuttgarter haben natürlich nichts getan. Wenn
die Züge günstig liegen, könnte auf diese Art an einem Wochenende ein
Aufenthalt von 24 Stunden herauskommen. Mehr leider
im Semester nicht.
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Die 2.
Möglichkeit wäre eine
Notlösung, nämlich
Begegnung in Sinne einer Tagestour in
Ludwigsburg. Du hättest ohne Umsteigen 2
Schnellzugsfahrten von je 2 knappen Stunden.
Nur ich brauchte einen Paß. Für schlechtes Wetter müßte uns
Dietrich Seckel sein Zimmer in
Lu. zur Verfügung stellen. Studiere mal die Fahrpläne.
Die 3.
Möglichkeit wäre die ergiebigste: so, wie
Theo es gemacht hat. Nur ist
dabei folgendes etwas schwieriger als bei ihm: er schlief auf der ins
Eßzimmer gebrachten Chaiselongue. Da müssen aber die 2 Studenten
durchgehn: es sind jetzt 2, die die Glasveranda bewohnen. Der
japanische Schirm deckt die Ch. nicht ganz. Wenn
kein Semester ist, fällt diese Schwierigkeit
fort. Einen Paß kann ich durch eine freundliche Bescheinigung des
Buchhändlers Siebeck für Dich
wahrscheinlich erreichbar machen. Bei anderen (Gelehrten) hat sogar
meine eigene Bescheinigung ausgereicht. Die Fahrt dauert 2 + 2½
Stunden, ist also nicht länger als im Falle 2. Im vorigen Juli war
der Anschluß sehr gut, d. h. nicht zu knapp und nicht zu spät.
Überlege dies alles auch einmal. Diesseits schweben noch: eine
Tagung auf der Comburg, die im Juni sein
sollte und ein noch nicht datierter Vortrag
in Sigmaringen. Wie's auch sei: Spätestens
Anfang August muß es glücken.
Wir haben jetzt die Eisheiligen, überhaupt sehr angreifende
Temperaturstürze. Es geht mir infolgedessen nicht berühmt:
"April und Mai und Junius sind "eben" Ferne". Und
die Menschen wollen doch immer so viel von mir.
Wenke ist in
Hamburg eingetroffen, hier als neuer Kollege der
<li. Rand> von
Berlin her
angenehm bekannte Kollege (Nationalök.)
Brinkmann. Vorläufig hungert er
sehr. Wir halfen ein wenig. Pakete sind z. Z. zahlreich. Für heute
muß ich wohl schließen. Wir stehen 3 mal in der Woche um 4¼ bis 4¾
auf. Ich bin um 8 abends erledigt. Innigste Wünsche
<Kopf> und von der ganzen Sippschaft viele
Grüße
Dein
Eduard.
[li. Rand S. 1] Die "Europäischen Dokumente" habe ich nicht
gelesen. Ich lese überhaupt nicht gerne Zeitschriften. Das gibt
Gemüse im Kopf statt im Magen. Lersch ist Ord. der Psychologie in München, soll leider sehr krank
sein.[Kopf S. 1] Danke
Matussek für s. ausführl.
Brief. Leider kann ich nicht gleich antworten – gut, daß er für
Shinohara
sorgt.