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Tübingen, den 12. November
47.
Meine einzige Freundin!
Es ist jetzt ein solcher Arbeitskampf, daß ich allenfalls zu einem
Gruß an Dich komme. Ich weiß, Du wirst das meinem Herzen nicht
zurechnen. Im stillen rede ich ja immer mit Dir und sehne mich um so
mehr nach einer gesammelteren Aussprache, als sie äußerlich unmöglich
ist. Aber diese Diesvorlesung frißt mich rein auf. Alle 8 Tage ein
Kunstwerk in genau 60 Minuten hinstellen das ginge nur, wenn man den
Stoff absolut beherrschte. Daran fehlt es aber, und zwar von Woche zu
Woche mehr. Trotzdem glaube ich bisher wirklich mehr als Gewöhnliches
geleistet zu haben. Aber es wird mir bitter schwer. Meine Erkältung
(mehr schon Naseneiterung) hatte ich anscheinend überwunden; da fing
am Sonntag der Schnupfen von neuen
an. Wir haben hier ungeheure Temperaturkontraste. Die
Universitätsräume sind morgens um 8 noch ungeheizt. Ich rede im
Mantel. Durch das Mißbefinden verliere ich dann wieder Arbeitszeit.
Trotzdem arbeite ich jeden Tag mindestens 8, manchmal 10 Stunden, und
alle Vorlesungen etc. sind jetzt sehr
schwer.
"Erlebt" haben wir nichts. Selbst die Post ist seit
einiger Zeit spärlicher und uninteressanter geworden.
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| Der
Gipfel der "geistigen" Welle scheint vorbei. Man steht vor der realen
Not des Winters und sammelt den Rest der Kräfte. Die politische
Entwicklung der allernächsten Zeit wird sehr wichtig sein. Man soll
jetzt wieder Zeitungen lesen.
Von
Käte Silber hatte ich einen
ausführlichen Brief. Sie läßt Dich grüßen.
Meinecke hat seinen 85.
Geburtstag durch Überwindung einer neuen Lungenentzündung
gefeiert.
Wir werden nun noch weniger hinauskommen als sonst.
Aber morgen um 9 abends – wenn ich dann noch kann – wollen wir die 9.
Symphonie hören. Meist muß ich solche Genüsse im letzten Augenblick
aufgeben.
Mehr habe ich heute nicht zu
berichten. Die Feder gehorcht mir schon nicht mehr. Morgen handelt
die Diesvorlesung von
Augustinus. Das ist ein hartes Stück – in 1 Stunde
ein Bild zu geben. Wie es dann weitergehen soll, weiß ich noch nicht
einmal. Aber es kommen noch 5 Stunden.
Noch einmal: habe
Nachsicht und zweifle nicht an der Liebe Deines stets an Dich
denkenden
Eduard.
[] Was macht
das Zeichnen?