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Heidelberg.
19.X.1947
Mein liebes Herz!
Auf einem Bogen, den ich in der Augenklinik profitiert habe, will
ich Dir heut abend noch schreiben, wenn mir auch ein Besuch, der sich
unnötig in die Länge zog, die beste Zeit wegnahm. Es war der Onkel
meiner beiden Mitbewohner,
Dr.
Hoffmann, der Gatte der
geb.
Drechsler, die mit 4 Kindern in der Nähe wohnen. Er war
offenbar froh, seine Ansichten jemand mitzuteilen, was ja ganz
interessant war, aber mich fast ¾ Stunden kostete. Seine
Beurteilung der Lage, in die er durch
kaufmännische Beziehungen im Bankfach ziemlichen Einblick hat, ist
alles andere als rosig.
Aber woher sollte das auch anders
sein! Wir wollen dankbar jeden Tag wahrnehmen, der uns ungestört
geschenkt ist. Daß meine Tage mit
Hermann rascher zu Ende waren, als ich erwartete,
schrieb ich wohl auf der Karte vom Schloß. Nun wird er wohl über
Essen –
Oeynhausen
und
Bielefeld wieder in
Tutzing gelandet sein. Es war übrigens ein Irrtum
von mir, der durch eine Nachricht von
Mechthild an mich entstand, daß Hermann und
Hete den offiziellen Weg der
Rückkehr verlassen hätten; sie wurden dazu aufgefordert, falls sie
die Möglichkeit hatten, zu Verwandten zu gehen. Nun ist es nur, trotz
guter Zeugnisse, die er beibringen kann, aus der
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| Ferne die
Entnazifizierung zu betreiben, sehr schwierig.
Inzwischen
bekam ich nun auch noch einen Brief von dem Dir genügsam bekannten
Vetter Rudi, der als SS-Arzt
noch übler dran ist, als die andern Betroffenen. Er war den Krieg
über an der Front und dann 2 Jahre in Gefangenschaft. Seit 7 Monaten
zu Hause darf er den Beruf fast garnicht ausüben, wurde als
Schwerversehrter aus dem Internierungslager entlassen, konnte 4
Wochen eine Vertretung übernehmen und ist nun arbeitslos mit
Frau und 2 Kindern. Vielleicht
hoffte er durch mich eine Vermittlung zu erlangen, aber ich weiß ja
nicht einmal Hermanns Sohn
Dieter zu helfen. Der
Chefarzt in
München hat ihn
nicht wieder eingestellt, weil er seine eignen Leute hat. Es ist ein
andrer als bisher dort. Dies alles gibt die Illustration zu der
Unterhaltung des
Dr. H. aus
meinem persönlichen Kreise.
Wie dankbar kehren dann immer
meine Gedanken in
Tübingen ein, wo sie doch
ohne eigentliche Sorge ausruhen können. Freilich fürchte ich auch da
allerlei, z. B. die frühe Kälte! Wie bewährt sich denn die Heizung
mit dem mühsam erlangten Holz? Ist es nicht naß, da es so spät
geschlagen wurde? Bei mir brennt heute den ganzen Tag das Sparöfchen
im Zimmer, während der eigentliche Zimmerofen, ein sogenanntes
Kanonenöfchen, noch in Reparatur ist. Trotzdem ist es unangenehm
fußkalt, denn drunter ist ja der Hauseingang, und auch sonst ist
keine einzige warme Wand.
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| Aber ich bin doch ziemlich
abgehärtet und will mir nur Mühe geben, nicht wieder so erfrorene
Glieder zu bekommen.
Abends im Bett ist es dann sehr
gemütlich. Ich habe immer irgend etwas von Deinen Schriften zur Hand,
jetzt z. B. den
Rousseau wieder gelesen und mit Staunen, wie
anders und tiefer ich ihn jetzt verstehe. Es
hat doch damals schon genau so viel darin gestanden!
Inzwischen habe ich nun auch wieder einen Zeichenauftrag, den ich
aber zuhause erledigen kann, falls es mir doch nicht zweckmäßiger
scheint, die Arbeit
doch
[über der Zeile] dort unter der ständigen Controlle
des
Oberarztes zu machen. Es
handelt sich um eine Operation am Augapfel,
die nach einer Skizze und mit Hülfe einer anderen Darstellung
abgebildet werden soll. Ich bin immer froh, wenn ich nicht nach den
Patienten selbst zu arbeiten habe, wie beim Augenspiegelbild.
Liest Du Zeitung? Ich begnüge mich da mit unserem Lokalblättchen,
hauptsächlich wegen der "Zuteilungen". Aber die Gesamtsituation spürt
man doch auch aus dem Andern, nicht nur aus den immer knapper
werdenden Rationen. Mit Kartoffeln bin ich noch nicht beliefert. Und
die Äpfel, die mir von
Dielbach zugesagt
waren, haben
Kohlers ungeschickterweise
bei
Rösel Hecht abgeliefert.
Sie kamen mit dem Auto auch zu mir, um mit den übrigen Möbeln, die
Ursel für ihr leeres Zimmer in
Karlsruhe braucht, einen Tisch und einen
Stuhl abzuholen.
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| Jetzt muß nun wieder jemand die Äpfel
weiter transportieren. So geht nie etwas glatt. Überhaupt mußte ich
1½ Tage auf der Lauer liegen, weil sie nicht so fahren konnten, wie
sie angekündigt hatten, und ich war sehr beunruhigt, daß ich sie
womöglich verfehlt hätte durch eine kurze Abwesenheit. Denn unsere
Wohnung ist oft gänzlich leer, weil die beiden anderen meist fort
sind.
Hast Du die maßgebliche Äußerung von
Jaspers zur
Goethefrage gelesen? Kürzlich
war auch in der Zeitung ein Bericht über "ein deutsches
Pestalozzidorf" des
Grafen
Keyserlingk. Das
erinnert mich an
Geheb und seine Utopia
und ich vermute, daß die Sache keine lange Dauer haben wird. Denn nur
aus Idealismus wird man auf längere Zeit nichts aufbauen können.