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Tübingen, den 29. Oktober
49.
Meine einzige Freundin!
Es ist leider schon so spät geworden, daß ein gesammelter Brief
leider nicht mehr zustande kommen
wird. Und es ist seit vorgestern auch Winter geworden. Der eine
Gingkobaum hat nach seiner Gewohnheit an einem Tage begonnen, seine Blätter fast
vollständig abzuwerfen.
Die wieder beigefügte Mitteilung von
Hermann ist – eine Mitteilung,
keine Motivierung. Diese folgt vielleicht einmal noch; vielleicht
auch nicht. Er hat für mich immer zu den seltsamen Menschen gehört.
Aber ich bin nun so alt geworden, daß ich jedem seine Seltsamkeiten
lasse.
Ist es für ihn ein Glück und ist
sie
sich klar, daß nach normalen Umständen eben nur ein Herbst für sie
beschieden sein kann, – wen geht das eigentlich etwas an? Allenfalls
die Kinder Hermanns,
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| und die haben ja zugestimmt. Wäre er
noch OSt.Dir. in
Stolp, so hätte er auf die
allgemeinen Anschauungen der "Gesellschaft" Rücksicht zu nehmen. Aber
diese Instanz ist für den Flüchtling fortgefallen, und es gibt ja
auch sonst kaum eine "Gesellschaft" in diesem Sinne mehr. Wollen zwei
Menschen, die es sich beide gründlich überlegt haben, ein Glück im
Winkel gründen (trotz des Grafen Petöfy, den ja wohl beide gelesen
haben werden oder sich selbst ausdenken können), so sollte sich
niemand darüber ereifern. Nur die gedruckte Anzeige hätte
unterbleiben sollen; denn für den Gratulanten erzeugt sie eine
Verlegenheit. Ich habe mich dann auch auf 2 Sätze beschränkt. Die
Frage: "in ein Bild einordnen", konnte für mich nicht auftreten, da
ich mir von Hermann kaum jemals ein Bild zu machen vermochte. –
Hoffen wir also, daß alles gut geht und ihnen der gemeinsame
Winterabend mollig wird!
Von hier ist nicht viel Neues zu
berichten. Der 1. Vortrag in
Stuttgart für
das Rote Kreuz, der doch "Geld machen" sollte, war nicht genügend
bekannt gemacht. Infolgedessen
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| blieben – zum 1. Male in
Stuttgart – etwa 40 Plätze von ca 450 frei. Angenehm ist bei diesen
Veranstaltungen immer die Begegnung mit dem mindestens 80jährigen
Psychiater
Gaupp, dem
Vorvorgänger des Protestanten
Kretschmer. Während damals die Fahrt durch den
Schönbuch noch bei Tage stattfand, war es bei
dem Vortrag vor 3 Tagen schon dunkel.
Susanne, die ich zur Ausfüllung des Autos
mitnahm, hatte davon nicht viel. Der Widerhall war beide Male
stark.
Ein Problem beginnt die Überfülle von Durchreisenden zu
werden. In den letzten Tagen kam fast täglich ein Unangemeldeter: z.
B.
Prof. v. Brandenstein,
früher
Budapest, jetzt
Saarbrücken, ein redseliger oesterreichischer Typ.
Oder der Enkel
Mothes der guten
Frau Günther † in
Cröben bei Leipzig – was doch nun schon 30
Jahre totlag; oder der
Pfarrer
Fischer aus
Schönwalde bei Buch (Du
wirst den Ort kennen.) Derartiges wäre ganz hübsch, wenn man nicht
immer aus der Arbeit aufgestört würde. Was irgend geht, wird ja schon
von mir ferngehalten.
Am 4. November will ich mit Vorlesung
und Seminar beginnen. Die Ferien waren ja lang genug. Morgen fahren
wir zu
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| einer philosophischen Apothekertagung im
Hohenzollernschen
Jagdschloß Lindich bei
Hechingen. Das ist dann der Abschluß der Ausflugssaison.
Jetzt aber bin ich – eigentlich ohne Berechtigung – so todmüde,
daß ich wohl oder übel einfach abbrechen muß. Bitte schiebe nicht aus
Geiz das Heizen so lange hinaus, daß es Dir ungemütlich wird. Das
bißchen Häuslichkeit ist im Alter die eigentliche Bühne des Lebens.
Wenn Du den Vorhang zugezogen hast und der Ofen brennt, kannst Du Dir
einbilden, Du säßest im schönsten Schloß.
Hoffentlich kann
ich bald gescheiter schreiben.