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Heidelberg.
16.I.1949
Mein geliebtes Herz!
Hast Du bemerkt, wie in dem Augenblick, als Dein Zug aus der
Heidelberger Halle ausfuhr, am Himmel die Wolken zerrissen und ein
heller Sonnenblick aufstrahlte? Mir war es ein Sinnbild Deines lieben
Besuches; gerade so flüchtig, schnell vorüber, und doch einen warmen
beglückenden Schein zurücklassend. Mir war nach dem ganzen Tag, als
wäre Sonntag, und ich beeilte mich, mein Zimmer und alle Geräte
wieder in Alltagszustand zu setzen, nur der Tannenzweig steht noch
da, bis auch er – zu Wärme wird. Er sagt mir vorläufig noch, daß er
Gefallen vor Deinen Augen gefunden hat, wenn auch sonst manches nicht
nach Wunsch war. Wirklich betrübend aber war mir, daß ich Dir nichts
Eßbares für unterwegs mitgegeben habe. Da wäre
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| es wirklich
am Platze, daß du mich einen "alten Geizkragen" nennst. Aber es hatte
mich etwas überstürzt, daß der Aufenthalt nun doch so unglaublich
kurz war. Bis zu Deinem Kommen hatte alles so gut geklappt und war
ohne jede Hetze fertig geworden, auch die Butter zum Brot war morgens
geholt – und dann versagte mein Verstand, als Dir das Weißbrot nicht
zu gefallen schien. Ich hätte Dir doch Schwarzbrot anbieten können!
Ach, warum hast Du mir da nicht nachgeholfen? Du weißt doch, daß
alles für Dich da ist! – Ich habe in dem
uralten Kursbuch nachgesehen, es ging damals ein Zug um
die gleiche Zeit ab, der 5 Uhr 18 in
Stuttgart
ankam, so hast Du vielleicht noch den Anschluß nach
Tübingen erreicht. Aber dann war garkein Aufenthalt
in Stuttgart und also keine Zeit, dort etwas zu kaufen. Wenn Du dort
länger bleiben mußtest, dann hast Du jedenfalls nicht Mangel zu
leiden brauchen, denn es gibt jetzt ja wieder Gastwirtschaft am
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| Bahnhof. Aber wenn Du durchfahren mußtest, dann bliebst Du
viele, viele Stunden ohne Essen, und der
Gedanke hat mich die ganze Nacht verfolgt und immer wieder geweckt.
Es wäre doch garzuviel Unbill, die Du da um meinetwillen auszuhalten
hättest, von früh um 7.20 an! Denn der Speisewagen nebenan war ja,
wie Du sagtest, nur für Besitzer von Devisen. Ich will froh sein,
wenn ich über den Verlauf Deiner Reise bald etwas höre, und bitte
Dich nur, meine zunehmende Altersschwäche zu entschuldigen. Sollte
der Zettel, den Du probeweise mit dieser Feder schriebst, vielleicht
Deine Beurteilung der Situation sein?
Im Übrigen kehren meine
Gedanken immer wieder zu dem zurück, was Du von
dem jungen Theologen von der
Reichenautagung erzähltest. Der und
Fräulein Lucas haben mir damals besonderen Eindruck
gemacht, Ist
er nun der freie
protestantische Geistliche, der zwischen lauter Schwarzen in
Stuttgart sitzt? Ich habe den Zusammen
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|hang nicht erfaßt. Du weißt ja: "hören tut das dumme Luder
auch nicht!" Überhaupt auch die Bemerkung von dem Wiedersehen mit der
Jugendbewegung blieb mir ohne klare Beziehung. War jene Tagung
ausgesprochen jugendbeweglich? Dann muß ich auch noch bekennen, daß
ich im Moment
Schröbler und
Morgener (d.
h. die Namen) verwechselte. Schröbler war jener erste Famulus den Du
von
Meumann übernahmst, und das
war ja für die Einführung recht erwünscht. Aber seine Persönlichkeit
ist mir nicht mehr gegenwärtig. –
Sehr vieles sonst, was mir
zu fragen am Herzen läge, blieb unerwähnt, Persönliches und
Allgemeines. Zu ersterem gehört vor allem, ob Du die Beschwerden,
derentwegen Du die unbenutzte Brille anschafftest, endgültig los
bist? Dein Aussehen war trotz der gehabten Anstrengungen so gut, daß
ich meine Freude daran hatte. Oder war es Blendwerk? Und zum zweiten
beschäftigt es mich dauernd, in wieweit wir hoffen können,
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eine religiöse Erneuerung ohne den Rückfall in kirchliche Erstarrung
zu erleben? – Ich habe hier wiederholt Gespräche mit
dem jüngeren Matussek, der sich
gegen seine innere Wahrhaftigkeit durch die kirchlichen Vorschriften
des Katholizismus gebunden fühlt. Ich verweise ihn immer nur auf die
innere Stimme, die ihn in diesem Kampf den rechten Weg durch das
Leben führen wird. Denn das Leben lehrt – bereit sein ist alles!
Hast Du die Absicht fortgesetzt, die Paulinischen Briefe nach und
nach zu lesen? Ich habe von dem an die Römer keinen rechten Zugang
gefunden. Die Corintherbriefe haben eine ganz andere Tonart. Aber ich
bin vielleicht nicht aufnahmebereit gewesen. — Und nun gar die
Offenbarung Johannis! Vor Jahren habe ich sie geradezu mit
Widerwillen abgelehnt. Es schien mir wie eine ungesunde Phantasie.
Jetzt, da wir an soviel Scheußlichkeiten gewöhnt wurden, verstehe ich
die Sprache eher und ich kann mir allerlei dabei denken.
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Aber es ist in dem Buche gerade das, was mir an den "Gläubigen" so
unsympathisch ist, das Schwelgen in der Herrlichkeit, die den
"Auserwählten" beschieden ist. Mir genügt das Streben nach dem
Frieden Gottes im Herzen. Vielleicht ist dies, was mit der ersten
Auferstehung gemeint ist.
Heute habe ich mal wieder keinen
Menschen gespochen. Ein Zustand, von dem Du dir ja keine Vorstellung
machen kannst, der Dir aber vielleicht erklärt, warum ich immer
unbehilflicher im Gebrauch des Wortes werde. Und in meinem Zimmer war
es noch viel dunkler als tags zuvor. Draußen lag der Nebel bis an den
Fuß des Berges und es war noch viel trübseliger als bei Deinem
Hiersein. Es ist ein recht charakterloser Winter, und man friert
trotzdem, gerade wegen der Nässe.
Du wolltest doch wissen,
woher die kleinen Spielkarten stammen. Ich habe sie bei
Hedwig Mathy gegen ein Spiel
Rommékarten eingetauscht. Leider hatte sie kurz vorher die besseren
schon an eine kleine Großnichte verschenkt. Vielleicht wird
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| man auch einmal wieder solche Dondorff-Karten zu kaufen
bekommen. Denn die Du jetzt hast, sind doch schon recht schadhaft.
–
Wenn ich wüßte, ob es Dein Ernst war, daß Du Dich bei mir
"so viel aufregen mußtest."? Mir war so still friedlich zu Sinn, daß
es mir recht leid wäre, wenn Dirs nicht ebenso ging. Trotz der
drangvoll-fürchterlichen Enge bei Aron Wassertrum, die ja nicht meine
Schuld, sondern meine Last ist, finden es die Leute bei mir oft so
gemütlich.
Zum Mittagessen habe ich heut, (dem Rest von Reis und Soße, den Du leider
nicht gegessen hast mit Kartoffeln verlängert) ein Glas von dem Wein
getrunken. Aber so allein war es garnicht schön, und ich bedauerte
umso mehr, daß Du ihn nicht mitnehmen wolltest. Morgen zwischen 10
und 11 werde ich in die Augenklinik pilgern und hoffe, dort
gedeihlich zu arbeiten. Es ist nicht gut, so lange zu pausieren. Aber
heute hatte ich ein unbändiges Schlafbedürfnis, denn gestern war doch
ein bewegter Tag auch für mich, vor, bei und nach Deinem Hiersein! Am
Dienstag soll ich zum Kaffee
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| bei
Mehners, eine
Großnichte von
Vorstand, die jüngste Tochter von
Meyers treffen. Sie ist auch mit
Mann und zwei Kindern aus
Ludwigshafen vertrieben.
Und am
Dienstag beginnt wieder Dein Kolleg. Hoffentlich hast Du Dir keine
Erkältung von der Reise mitgebracht, und bist unterwegs nicht
verhungert. Was wird
Susanne
denken über meine mangelnde Fürsorge! Sage ihr doch herzlichen Dank
für die Schokolade, auf der ich erst mit der Brille ihre Handschrift
erkannte. Ich sollte wohl eigentlich die Brille ständig tragen, aber
sie ist mir, wie Dir, nur für die Nähe angenehm. Ich sah aber gestern
doch, mit welch einem Minimum an Sehschärfe ich mich für gewöhnlich
begnüge und das ist ein entschiedener Fehler.
Denke noch
manchmalx [li. Rand] x d. h. hin und wider gern an das gute, wenn auch nasse
Heidelberg und an