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Heidelberg. 19. Juni
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Mein liebes Herz!
Schon
seit Tagen wollte ich Dir schreiben, welche große freudige
Überraschung ich hatte, als ich entdeckte, daß in der neuen Auflage
der "Magie der Seele" nun die Weltfrömmigkeit auch mit enthalten ist!
Das Buch, das Du mir in
Wimpfen gabst in dem
Augenblick, als ich noch halb betäubt war von dem so
unprogrammgemäßen Verlauf Deiner Ankunft, lag hier jeden Abend
griffbereit an meinem Bett; aber ich war täglich so ermüdet, daß ich
nicht mehr lesen konnte. Endlich am Dienstag, also fast eine Woche
nach unserem Zusammentreffen, schlug ich es auf und fand die zweite
Vorrede. Ich hatte so garnicht an die Möglichkeit einer Veränderung
gedacht, daß es mir war, wie neu geschenkt, daß nun das Buch nicht
mehr als Torso in die Welt gehen mußte. Denn gerade die
Weltfrömmigkeit war mir seiner
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| Zeit wie eine Offenbarung
und sie ist auch der Unmittelbarste und
Impulsivste der drei Vorträge. Mir war es die Erfüllung eines lang
gehegten Wunsches, den ich schon
vor
unserer Bekanntschaft lebhaft in mir trug: es müsse jetzt jemand
kommen, der Glauben und Wissen wieder versöhnte! Denn das religiöse
Verlangen in mir war immer lebendig, aber Glauben war mir
gleichbedeutend mit dogmatischer Gebundenheit und damit konnte ich
mich nicht abfinden. Wohl hatte ich durch Dich
gelernt, gedanklich Religion und Kirchenglauben zu unterscheiden,
aber diese klare Durchleuchtung der seelischen Einstellung war mir
wie eine Rechtfertigung meines Suchens und meines Weges! – Und wieder
wie damals empfand ich jetzt die Schilderung der Naturauffassung
nicht beseelt genug, um dann gegen den Schluß hin auch im Wissen die
erlösende Kraft aufgezeigt zu finden. Das alte Exemplar des Buches
von der Evangelischen Verlagsanstalt steht in würdigem Einband in
meinem Bücherschrank, und nun kann auch die Tübinger Auflage in
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| ihrer beglückenden Vollständigkeit daneben stehen und wird
unter keinen Umständen verliehen. Aber ich habe gleich, damit der
"arme Autor" auch daran was verdient, ein Exemplar gekauft, das
bereits in Gedanken den verschiedensten Eigentümern zugeteilt ist.
Jedenfalls wird es nicht das letzte sein, das durch meine Hände geht,
denn ich kenne seine lebensvolle Wirkung, die ich auch andern
vermitteln möchte.
Was Du von der Ablehnung durch die
Evangelische Theologie schreibst, ist hoffentlich nicht auf die Dauer
zutreffend. Ich habe von den mir zugänglichen Stellen nur Zustimmung
gehört. Es waren allerdings keine prominenten wie
Dibelius, der wohl für sein
Kirchenregiment davon Gefahr fürchtet. – Hier hat ein
Nauenheimer Geistlicher, den
Hedwig Mathy sehr verehrt,
sogar versucht, Dein Buch in seinem weiblichen Bund vorzulesen, aber
da ging es etwas über das Niveau. Es waren wohl zu viel fromme Seelen
dabei. Im hiesigen Kirchenblättchen war am letzten Sonntag auch ein
sehr bezeichnender Artikel: Hier irrt
Goethe. Diese Menschen haben garkeine Ahnung, wie
beschränkt
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| sie sind in ihrer starren Wortgebundenheit. Der
Verfasser hieß auch bezeichnender Weise
Wallach. –
— Den
Dr. Matussek habe ich noch
nicht wiedergesehen. Am Mittwoch kam nur
der Bruder, der am
Bodensee gewesen war, per Anhalter, und mit
einem
Bekannten. Sie haben im
Kloster Hegne gewohnt, billig und gut, und
haben die
Reichenau und
Mainau gesehen. Paul M. war eingeladen für einige
Tage in die
Schweiz, und er hatte eine
Erholung nötig. Ich bin begierig, was er davon berichten wird.
Mich beschäftigt vor allem was Du mir bei unserem Zusammensein
erzähltest. Es ist alles so schnell wie ein Traum vorüber gegangen
und manches Wichtige, was ich gern mit Dir besprochen hätte, habe ich
nicht gegenwärtig gehabt, wie ich überhaupt nicht so innerlich
befreit war, wie ich es gern für Dich gewesen wäre. Vor allem konnte
ich es garnicht abschütteln, daß ich eingeschlafen war, während Du so
mühsam da heraufwandern mußtest. Hätte ich Dich abholen können, wäre
ich über die Müdigkeit fortgekommen, und wäre froh gewesen!
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Von dem wirklich hübschen Feiertags-Ausflug mit
Rösel Hecht sagte Dir meine
Karte. Es war nur ein gemütliches Schlendern, der Weg vom
Schriesheimer Hof bis
Heiligkreuzsteinach in der Luftlinie etwas über 3
km. wurde in Etappen gemacht und Rösel war so behaglicher und
zufriedener Stimmung wie selten. Für mich aber redete vor allem die
ganze Gegend in ihrer wunderbaren Lieblichkeit und ihrer persönlichen
Bedeutung für mich. Der Abhang mit den einsamen Kiefern ist natürlich
nicht mehr da, und auch der Waldrand, wo wir
die Häherfeder fanden und wo das Schicksal entscheidend zu mir
sprach, war nicht zu erkennen, aber das Bedeutungsvolle jener Stelle
war mir nicht Vergangenheit, sondern lebendige Gegenwart. Und so lebe
ich in der Gewißheit einer höheren Führung, voller Dankbarkeit gegen
das Schicksal und Dich, Du geliebter Freund.
Denn das ist ja
auch der Grund, daß ich es nicht
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| als drückend empfinde,
daß ich so weitgehend Deine materielle Hilfe in Anspruch nehmen muß.
Aber es wäre mir lieb, wenn ich Dir diese Sache möglichst erleichtern
könnte, da Du ja selbst nicht unbegrenzt begütert bist. Wie es nun
damit steht, will ich Dir berichten. Ich war auf dem Wohlfahrtsamt
und traf dort einen jüngeren, angenehmen Beamten, der mir sagte, daß
ich bei einer Altersrente von 53 DM einen Zusatz von 10–15 M
Unterstützung erhalten könne. Das wäre ja aber doch keine
nennenswerte Entlastung für Dich, und soviel hoffe ich doch
durchschnittlich immer noch zu verdienen. Besonders da ich wieder
eine gewisse Aussicht auf Arbeit habe, diesmal in der Ambulanz. – Ein
möglicher Ersatz aber für die verlorenen Sparkassenguthaben durch das
Sofortgesetz sei davon unabhängig und danach will ich unbedingt
streben, die Wohlfahrtsunterstützung aber vorläufig nicht beantragen.
– Bist Du damit einverstanden? Eine gesetzliche Verpflichtung
zwischen Geschwistern
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| soll übrigens nicht bestehen, sodaß
da keine Weiterungen zu befürchten wären. Menschlich würden beide mir
sicher gern beistehen, wenn sie in der Lage wären; aber sie haben ja
selbst nicht genug und haben beide Kinder, die Hülfe brauchen. So
sind sie sicher dankbar, daß sie mich durch Deine Fürsorge versorgt
wissen und – meinem Herzen bist Du doch der Lebste!
Das aber
möchte ich Dich dringend bitten, daß Du für den nächsten Monat nichts
schickst. Denn ich halte es nicht für richtig, im Augenblick, wo man
seine Bedürftigkeit bekommen will, etwas Erspartes anzulegen. Und bei
allen notwendigen Anschaffungen des Moments habe ich noch 270 M im
Hause, die also mit den 53 M am 1. Juli mehr als ausreichend sind.
Also, bitte, erst wieder im August! Denke doch, dafür hätten wir
jetzt den Aufenthalt in Wimpfen gehabt. An
der Verteuerung der Sache war schließlich nur die Frau Schneider schuld. Denn die
Frau Schnell mag wohl immer solche
Badeorts-Preise nehmen.
Die Schwüle, die uns dort bedrückte,
ist ganz vorbei. Gestern habe ich ganz abscheulich gefroren.
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| Hoffentlich bist Du nicht ganz ausgehungert in
Tübingen angekommen. Ich machte mir Vorwürfe,
daß ich nicht irgendwie für Nachhülfe gesorgt hatte. Aber es war
alles so schnell vorbei, ehe ich es recht erfaßt hatte.
Und
jetzt will ich mich noch mit dem Einkochen der Kirschen befassen. 6
sterilisierte Gläser sind schon fertig. So gehen die Tage in lauter
unwichtigen Dingen hin und doch bleibt auch dabei immer ein
Restbestand unerledigt.
Frl.
Dr. Clauß ist verreist, in Urlaub. Und ich hätte gerade gern
ihren Rat gehabt. Aber auch ohne das fühle ich
mich heut wieder besser. Es ist ja, wie Du wohl gemerkt hast,
eigentlich nur das Alter, das mir zu schaffen macht.
Meine
Gedanken kehren immer wieder zu Deiner
Goetherede zurück. Es ist mir eigentlich
erstaunlich, daß man ihm in
Weimar seine Ehe
verdacht hat. Es war wohl hauptsächlich anstößig, daß die Betreffende
nicht hoffähig war. – Die innere Einsamkeit bestand ja ohnehin seit
der italienischen Reise. – Ich warte mit Spannung
<Kopf> auf die Deutung, die Du dem Schwanken in
der
<li. Rand> Selbstbeurteilung geben wirst. Mit
innigen Grüßen und Dank für
< li. Rand S. 7> alles
Sichtbare und Unsichtbare Deine Käthe