Wenn ich noch den Anschluß vor Eurer
Abreise nach
Überlingen erreichen will, dann
ist es entschieden hohe Zeit zu schreiben! Wie immer bist Du Lieber
pünktlich mit deinem Gruß eingetroffen
zum
Fest, und ich bringe es wieder nur dazu,
am
Fest eine geeignete Stunde zu finden. Du weißt ja aber, daß es nicht
Gleichgültigkeit sondern Unvermögen ist. Obgleich ja eigentlich die
Nachrichten, die mir Dein lieber Brief brachte, Veranlassung gaben,
mich zu betrüben, so habe ich mich doch auch wieder innig gefreut und
danke Dir von Herzen dafür. Es muß wohl in diesem beginnenden
Frühling ein sehr nervenfeindliches Klima gewesen sein, denn meine
Energielosigkeit und Schlafsucht war geradezu krankhaft, und ich
habe, wenn auch ohne Erkältung, die "klatrige
[2]
| Stimmung" in
meiner Art "mitgemacht". Vor allem zeigte sichs in den
verschiedensten Glieder- und starken Augenschmerzen, die bei mir der
Ersatz für Kopfschmerzen sind. Die Temperatur wechselt auch bei uns
zwischen eisigen Winden und Gewitterschwüle.
Heute nun ist der
geplante Blütenweg von
Handschuhsheim auf die
Strahlenburg gestiegen. Von früh an war starker Wind bald von Norden,
bald von Süden, welches letztere ausschlaggebend blieb zu unserem
Glück, denn so trieb es uns in unsrer Wegrichtung vorwärts. Ich hatte
eigentlich nicht geglaubt, daß ich den ganzen Weg schaffen würde,
aber
Frl. Seidel lag so viel
daran und ich wollte sie nicht enttäuschen. Sie nahm auch sehr
freundlich Rücksicht auf mein sehr gemäßigtes Tempo und es war ja
auch eine zauberhafte Pracht, durch die wir wanderten. Alles, aber
auch alles blüht auf einmal von den Pfirsichen, Zwetschen, Birnen,
Kirschen bis zu den ersten Frühäpfeln. Aber wie zauste der Sturm in
den Zweigen!
[3]
| Ganze Blütenbüschelchen warf er auf den Weg,
auch ganze Trauben goldgrüner Ahornblüten. Der Himmel war ziemlich
bewölkt, besonders über der
Pfalz, aber bald
hier, bald da war die Wolkendecke zerrissen und es
fielen entzückende
Lichter, die wundervolle Farbflecke in der
Rheinebene aufleuchten ließen. Und dann, nach dem
etwas mühsamen steilen Abstieg zur Burg, kam auch ein materieller
Genuß: eine warme Suppe, ein vorzüglicher Pfannkuchen mit Schinken,
und – ein Schnaps!, d. h. eigentlich wars mehr ein Likör. Aber wir
waren so durchgepustet, daß wir gern ein wenig "einheizen" wollten.
Alles in allem 2,50. Als wir zur Bimmelbahn aufbrachen, stellte sich
heraus, daß erst in 5/4 Stunden wieder ein Zug ging, und da der
Wartesaal am Bhhof der denkbar abscheulichste ist, entschlossen wir
uns an dem Platz, auf dem damals bei
unserem ersten gemeinsamen Wege Meßtrubel war,
im
Gasthaus zur Linde noch eine Tasse
richtigen Kaffee zu trinken. Das war ganz nützlich,
[4]
| denn
bei der Ankunft am
Bismarckplatz brach gerade
bei unheimlichem Sturm ein Platzregen los, der mich trotz größter
Eile gründlich durchnäßte, bis ich an der
Bahnhofstraße wieder einen Wagen erreichte. Einen
Schirm aufzuhalten war unmöglich. Jetzt nun stehen aber friedlich und
frisch einige Blüten von Schlehen, Ginster, Anemonen und Veilchen vor
mir und reden nur davon, wie schön es war. Das einzige Bedenken ist
nur, daß es etwa Euch ähnlich ergangen sein könnte und das wäre ja
bei Deiner Erkältung wenig erwünscht! Ich dachte lebhaft an Dein
Erlebnis vom
Gnadensee und bin froh, wenn Du
diesmal solche Ausflüge nicht unternimmst. — Wir waren von 10 Uhr bis
2½ unterwegs und nachdem ich zu Hause etwas ausgeruht hatte,
bin ich zu
Frau
Héraucourt gegangen, die mich eingeladen hatte. Wir haben viel
Ernstes und Innerliches gesprochen, Kaffee und Kuchen genossen und
nachher las ich ihr noch auf Wunsch
zum
zweiten Mal deinen Aufsatz in der "Pforte" vor, für den sie
trotz ihrer Kirchlichkeit echtes Verständnis hat. Ich liebe
[5]
| ihn sehr und hatte ihn ihr vor kurzem mal mitgeteilt.
Morgen wird nun
Frl. Mathy
zu mir kommen. Ich bin froh, daß ich den Spieß umdrehte und nicht zu
ihr fahren muß, denn es wird wohl kaum morgen schon ein Wetter sein,
das ins Freie lockt. – Und am Karfreitag war ich ganz unvermutet zum
Abendessen bei Koelles,
Vater
und
Tochter, die mich am
Vormittag aufforderte. Auch die Schoepffersche Nichte,
Frau von Buchwald war da, und
die Stimmung ganz behaglich. Wir werden
allmählig ganz nett bekannt,
wenns auch kein Ersatz für
Schoepffers
ist.
In meiner Weltuntergangsstimmung habe ich mich immer
wieder gern durch Lektüre abgelenkt. Aber zur Ablenkung war das, was
ich las eigentlich nicht geeignet, denn überall trat mir das Leben in
seiner Problematik entgegen:
Berlin um 1800 –
Kleist, der Unverstandene – und
jetzt
Gobineau, Renaissance!!
Überall
[6]
| die gewaltsame, nicht zu lenkende Bewegung des
Lebens! Es kann sie wirklich nur der Einzelne in sich möglichst zum
Einklang bringen und es erfordert immer von neuem die ganze Kraft.
Welch eine Gabe ist es, daß Du begnadet bist, solche Kraft in dieser
verworrenen Zeit auszustrahlen! Wie bin ich dankbar, an Deinem Leben
teilzuhaben!