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Heidelberg. 17. Sept.
1950
Mein liebes Herz!
Du
hast alles Recht, mit mir unzufrieden zu sein, denn es war bei mir
eine lange, gequälte Zeit des Versagens, innen und außen. Aber jetzt
scheint mir das Barometer zu steigen und da ist es natürlich das
Erste, daß bei Dir, Du Lieber, mein Bemühen einsetzt, wieder gut zu
machen, was ich versäumte. – Ich hoffe dringend, daß bei Dir mein
minus sich in erfreuliches plus umsetzte, da ja doch gewöhnlich eine
stille Beziehung im Unterbewußtsein unsres Erlebens zu bestehen
pflegt. Das wäre mir eine rechte Freude und Entschädigung.
Womit ich eigentlich den Zustand entschuldigen oder erklären soll,
weiß ich nicht recht, denn eine richtige Erkrankung lag nicht vor. Es
war in der Hauptsache eine Art Erschöpfung
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| die mir alles
Vorhaben verfehlt erscheinen ließ. Das Zusammensein mit
Kate Silber war noch
ungetrübt, aber der nachfolgende Besuch ließ mich recht unbefriedigt,
und ich hatte doch den besten Willen dabei; trotzdem wurde ich
zunehmend ungeduldig und unzufrieden. Es kam dazu, daß ich etwas von
Neuralgie geplagt war, was vermutlich bei größerer Ruhe schneller
vergangen wäre. So war ich recht zufrieden, als ich wieder allein zu
sein hoffte, und da verlängerte die gute Seele mit unbestimmten
Verheißungen weiterer Besuche
[über der Zeile] den Druck
auf meine schlecht beherrschte Geduld. Das war garnicht
liebenswürdig von mir und bedrückte mein Gewissen, und da kam dann
noch der Sturz dazu! Ich wollte ihn erst ignorieren, aber er war doch
nachhaltiger als die früheren und die ewigen Gewitter hatten mich
ziemlich mitgenommen. So habe ich mich wochenlang damit geplagt und
hatte weder
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| Lust noch Kraft zu irgend etwas. Es war ein
Zustand, wie ich ihn auch früher kannte, zur Zeit unsrer ersten
Bekanntschaft! wenn
ich in der
Rohrbacherstraße auf dem
Sopha lag und mir sagte: wenn ich
wüßte, daß jetzt die Decke einfällt, ich stände nicht auf! Um
allerlei selbstquälerischen Gedanken zu entgehen, war ich froh, wenn
ich mit Bekannten zusammen traf. Und war ich allein las ich viel – um
abgelenkt zu sein. Denn es war in mir garkeine Initiative.
Dein Aufsatz in der Deutschen Zeitung bewegte mich, ohne daß ich
meine Eindrücke klären konnte. Denn es ist
darin eine Spannung, die über die Gegenwart hinausweist. Allerlei
zusammenhangslose Gedanken gehen mir dabei durch den Kopf und ich
wäre froh, wenn ich sie an Deiner Kritik klären könnte. Als
konservative Natur hänge ich am "guten Alten", und war lange der
Meinung, daß die katastrophale Gegenwart etwas sei, was ausgehalten
werden müsse, um dann wieder anknüpfen zu können, wo die
Entwicklung
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| abriß. Aber immer mehr wurde mir bewußt, daß
es grundlegende Umwälzungen sind, mit denen wir uns abfinden und
einrichten müssen, und ich verstehe Deinen Pessimismus. Aber wir
haben ja doch den stillen Glauben an die gute deutsche Art, die nicht
in Spezialistentum und Verflachung stecken bleiben wird. Es ist ein
Weckruf, was Du in Deinem Aufsatz forderst. Wird es an dieser Stelle
auch von den entsprechenden Menschen gelesen werden? –
Daß die
"Einheit des Wissens" nicht mehr bestehe ist etwas, womit ich mich
nicht abfinden kann! Und es ist doch ganz fühlbar, daß die Forderung
nach Wert allenthalben lebendig wird und den ertötenden Verstand
zurückdrängt. – Aber die Universität ist überflutet und hat aufgehört
Eliteschule zu sein – – und doch hast Du selbst wiederholt
gesagt, daß Du die besten Eindrücke vom Geist der Studenten hättest.
Und das zeigt doch, daß auch für den vertieften Sinn der Lehre, wie
Du sie vermittelst, noch verständnisvolle Aufnahmebereitschaft da ist
– – nicht nur pflichtmäßiges Tatsachenstudium.
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Die
große Frage scheint mir nicht in einer Umwandlung der Hochschule zu
bestehen, sondern im lebendigen Ethos, das sie beseelt. Nicht
"wissensmäßig", sondern religiös soll die
Einheit sein, das ist nicht begrenzt christlich, aber allgemein
menschlich. –
Veranlaßt durch das Wiedersehen mit
K. S. hatte ich ihr schönes
Buch über
Frau Pestalozzi
wieder gelesen und anschließend "Lienhard und Gertrud." Ich kann Dir
nicht sagen, welch tiefe Wirkung das jetzt auf mich machte. Denn ich
war ja so völlig weltfern, als ich den Roman kennen lernte und hatte
noch garkein Verständnis für die Echtheit der Menschen. Jetzt hat es
mich tief ergriffen im Hinblick auf die Verworrenheit der Gegenwart,
für die man so heiß ein Mittel der Gesundung ersehnt.
Du
wirkst dafür in Deinem Reich und gibst die zündende Flamme weiter; so
wird es noch manchen Erwecker geben, der dem kommenden
Deutschland dient.
Mit großem
Interesse las ich heut in unsrer
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| Zeitung einen guten
Bericht über das Buch von
Alfred
Weber: Kulturgeschichte als "Kultursoziologie." Da sind
Gedanken, die sich sehr nahe mit Deinem Aufsatz verbinden. Es scheint
eine Gesamtsicht von großer Weite, ein Rückblick, ob auch ein
Ausblick geht nicht aus dem Artikel hervor.
– – Ich weiß
nicht, wie oft ich Dir schon die Sendung einiger Dinge versprochen
habe, die schon lange dazu bereit liegen. Jetzt soll es aber
wirklich bald geschehen, denn ich fange an,
zum täglichen Dasein wieder aufzuwachen. Ich bin so dankbar, wieder
schmerzfrei mich bewegen und atmen zu können. – – Es war mir
von
Frau Héraucourt angeboten
werden, mit ihr für eine Woche in die
Pfalz
zu gehen; und die Aussicht mal nicht für das tägliche Einerlei sorgen
zu müssen, hätte ja manches Verlockende gehabt. Aber es war gerade
nach dem verfehlten freundschaftlichen Besuch und da hatte ich nicht
den Mut. – In ähnlichem Gedankenzusammenhang steht, daß ich mich nun
mal bei
einer Bewohnerin des
evangelischen Altersheims nach ihren Eindrücken
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erkundigte. Es kommt so manchmal das Gefühl über mich, daß es hohe
Zeit wäre meine Lebensweise zweckmäßiger zu ordnen. Ich trage noch
allzu viel Ballast von früher mit mir herum und versäume darüber
Wichtiges. In der Zeitung mit dem Artikel über
Alfred Weber steht eine kleine
Erzählung, die mir eine Warnung zu sein scheint. Sie heißt "Die
Schatzhüterinnen" und ich möchte nicht diesem Schicksal verfallen.
Aber wie soll ich das tun?! –
Was nun das Unterkommen in dem
Heim betrifft, so meinte
Frl.
Schnell, die dort seit etwa einem Jahr wohnt, man könne für
130 M in einem kleineren Zimmer unterkommen. Das Essen sei gut und
zwar kommt es für jeden aufs Zimmer, was mir sehr angenehm wäre; denn
die Massenversammlung der Unzufriedenen bei Tisch im Landfriedstift
war schrecklich. Dort soll man recht friedlich auskommen. Aber der
Preis schreckt mich
[über der Zeile] vorläufig? ab,
nähere Auskunft bei der betreffenden Stelle
dafür zu suchen. Vorläufig lebe ich noch billiger in meiner
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| Selbständigkeit und behalte eine Reserve für Anschaffungen.
Aber ich fühle die Pflicht, der Sache näher zu treten, vor allem weil
ich um den gesicherten Verbleib dessen sorge, was
mein gehüteter Besitz ist – Deine Briefe
und alles was sonst Dir zugehört. Da muß eine zweckmäßige Ordnung
geschaffen werden, solange ich lebe, sodaß ich innere Ruhe habe.
Aber nun verzeih, daß ich immerfort so ratlos von mir selbst rede.
Ich bin ja nicht krank, nur lamentabel.
Frl. Dr. hat festgestellt, daß
nichts gebrochen ist, nur geprellt und daß Puls und Blutdruck normal
sind. Sie hat mir ein Kytta-Symphytum-Extract gegeben, von dem ich
täglich 30 Tropfen nehme, und außerdem Dextropur verordnet. Das
letztere hat mir früher schon gut getan, beim andern denke ich:
badt's nichts, so
schad' es nichts. – Ich möchte nur gern
endlich wieder einen Gruß abschicken, drum höre ich für heute auf.
Wann sollte
Comburg stattfinden und wann die
Schweiz? Das ist mir viel wichtiger als die
Meldung von
Vetter Walter, daß
er Ende Sept. oder Anfang Okt. für ein paar Tage herkommt. – –
– Ich denke oft und gern an Deine Eindrücke in
Rottweil und grüße Dich mit treuen Wünschen.