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Heidelberg. 19. Juni
1951
Mein liebes Herz!
Nach
einer lähmenden gewitterschwülen Woche ist heute endlich ein
erträglicher, fast zu kühler Tag. – Von meinem plötzlichen Ausflug in
den
Odenwald hat meine
Karte Dir Nachricht gegeben – vielleicht warst Du recht erstaunt.
Eigentlich war ich es selbst, denn zunächst hatte ich die
Aufforderung von
Rösel
abgelehnt. Aber schließlich siegte doch das Verlangen, den Alltag mit
seiner Last und Unruhe einmal abzuschütteln. Die Tage da oben bei den
lieben Freunden waren dann wirklich ungetrübt schön, und ich kam mit
neuer Zuversicht in die enge Gasse zurück. – – Ich empfand
recht, wie wohltuend die Naturnähe des Lebens dort ist, gerade im
Gegensatz zu dem engen Dasein in der Stadt. Auch das
[über der Zeile] neue Schulhaus und die
Lehrerwohnung, die ich noch nicht kannte,
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| sind ohne
elegant zu sein, so licht und zweckmäßig, in schöner freier Lage, daß
es wohltut.
Otto Kohler
erzählte von der mangelhaften Unterrichtsepoche, die er nur mühsam
überwindet, da eben die Grundlagen fehlen. Wie er vom mühsamen
Buchstabieren zum geistigen Erfassen des Gedruckten zu führen sucht.
Die Frau leitet das Haus mit
feinem Geschmack und Pünktlichkeit, pflanzt im Garten die neu
angelegten Beete, und verbindet auch ein Kind, das sich blutig
geschlagen hat. Es geht alles glatt und ohne Aufhebens. – Ich durfte
an allem teilnehmen, auch am "Flurgang" auf den Acker, wo Weizen und
Kartoffeln inspiziert wurden, ob man sie hacken muß, und wo die
ärgsten Disteln ausgerissen wurden. Meist aber ging ich allein durch
die fabelhaft blühenden Wiesen, über denen eine duftige Ferne und der
weite Himmel stand. Denn ich hatte durchgehends schönes Wetter. – Am
Dienstag abends fuhr
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| ich von
Eberbach, wo ich noch einen kurzen Besuch bei der
dort verheirateten
Tochter
Ursel gemacht hatte, mit dem gleichen Omnibus, den gleichen
Weg wie auf der Hinfahrt zurück – und zwar im Tal von
Plautersbach bei einem wolkenbruchartigen
Gewitterregen. –
Am Mittwoch mußte ich mich der Hausarbeit
annehmen, und am Donnerstag, an dem Du in
Winnenden warst, hatte ich die Näherin den ganzen
Tag zu allerlei nötigen Flickereien. Abends kam
der junge Matussek, und brachte
eine Bekannte mit, die
Bibliothekarin an der Irrenklinik ist. – – Allerlei Briefe
kamen,
[über der zeile] 1. sehr liebenswürdig und
befriedigt von
Elsi Klauser,
die ich doch garnicht so bereitwillig aufgenommen hatte! –
[über der zeile] 2. Sehr nett von
Rosmarie Haebler, die aber
leider nicht nur Gutes zu berichten hat. Ein als sehr kritisch
bekannter
Oberregierungsrat hat
den Vater durch allerlei
Beanstandung deprimiert. Es fragt sich ja aber, ob es den Mitteln der
Anstalt entspricht, was er forderte.
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[über der Zeile] 3.–6. Nach vielem Hin und Her, bei dem
es sich um eine Prozeßgeschichte von
Pramanns in
Oeynhausen
handelte, in der ich erst Herrn
Gehrat
Gunzert auf Wunsch von
Mädi bemühte, ist die Sache
jetzt zu Gunsten von ihr entschieden. Das hat mich Zeit und Briefe
gekostet, und ich bin doch so leer im Kopf, daß ich immer eins über
das andre vergesse! –
[über der zeile] 7. Aber nett
war es, daß ich auf einen Abschiedsbrief, den ich damals
Deiner Tübinger Studentin
schrieb, jetzt eine dankbare Antwort bekam und die Nachricht, daß sie
jetzt hier studiert. So ist sie am Sonntag, vorgestern, bei mir
gewesen und hat einen leidlich gesunden Eindruck gemacht. Sie hat nur
wenig Collegs belegt, und erklärt auf meine Mahnung hin, sich
vernünftig zu ernähren: "denn sie müsse doch durchhalten, da sie das
Studium gegen den Willen
der
Mutter durchgesetzt habe." Sie ist hier weiter in ambulanter
Behandlung.
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Es ist nun leider jetzt so, daß ein
solcher Besuch, – wir gingen "Blümchen pflückend" ein Stück hinter
der Kirche am Berge aufwärts – mich so müde macht, daß ich mich zu
dem üblichen Sonntagsbrief nicht mehr aufraffen konnte. – Gestern
habe ich dann definitiv an
Hermann abgeschrieben. Es
gibt da allerlei, was mich hindert, was ich Dir lieber mal mündlich
sage. Denn in andrer Hinsicht würde ich gern mal kurz hingehen.
Mit dem Zeichnen scheint es fürs erste mal wieder ein Ende zu
haben. Ich vermute, daß die Mittel der Klinik für diese Zwecke etwas
erschöpft sind. – Es ist da überhaupt in mir eine gewisse Verstimmung
gegen den unvernünftigen
Assistenten, der mir so Blödsinniges zumutete.
Naturgemäß hatte mich diese Fehlunternehmung deprimiert; denn so
bereit ich bin, Fehler anzuerkennen, so weiß
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| ich doch
auch, daß ich etwas kann! Und auf diese Art war es unmöglich. – Aber
die Freiheit und Ruhe da oben haben mir die innere Sicherheit
wiedergegeben. Es war wie ein Schweben in einem tragenden Element, so
wie der Raubvogel dort, der mit ausgebreiteten Schwingen über dem
Dorf kreiste. —
Zum Dank habe ich jetzt
Kohlers, den "Wandervögeln", Deine Pädagogischen
Perspektiven geschickt. Sie sind bei
Otto in guten Händen. – Von dem, was ich hier in
Heidelberg an Anregung haben könnte, mache
ich leider wenig Gebrauch. Aber es gibt ja die Zeitungsberichte, die
einem zeigen, ob man was versäumte!
Du wirst finden, daß
dieser Plauderbrief schon länger als nötig ist, und ich bin auch
schon recht müde. Darum für heut Schluß. Alle Freunde fragen immer
nach Dir, und mir bist Du bei allem guten Erleben immer gegenwärtig.
So grüße ich Dich innig mit vielen guten Wünschen.