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Tübingen, den 23.XI.53
mitt.
Meine geliebte Freundin!
Heute Abend ist in
Stuttgart der große
Vortrag, der etwas aufregend ist, weil ich mich nicht mehr so wie
früher auf meine Kräfte verlassen kann. Wir fahren um 17 mit der Bahn
hin und treffen erst nach 23 hier wieder ein. Das ist nun die 4. von
den 5 Fahrten, die ich im Laufe von 7 Tagen nach Stuttgart zu machen
habe. Die Verfassungsfeier war nicht angreifend (Schluß: 4. Satz der
9. Symphonie.) Der Besuch bei dem
neuen Kultusminister war angenehm und erweckte
günstige Hoffnungen. Zum Schluß mußte ich ihm sagen, daß
Wenke einen Ruf nach
Bonn hat (Nachfolge
Litt), unser kleines
Universitätchen also aufs neue gefährdet ist.
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Präsidiumssitzung am Samstag dauerte wieder ihre 7½ Stunden. Ich
lasse mich bei Nebel nicht gern im Auto mitnehmen. Gestern haben wir
in der Stiftskirche die Regensburger Domspatzen gehört.
Zu
erzählen ist sonst ein betrüblicher Fall aus
Kronberg.
Die
Mutter von Frau
Baronin v.
Holzhausen (86jährig) ist in ein Auto hineingelaufen und hat
eine Gehirnerschütterung davongetragen. Das Betrübliche wird dadurch
erhöht, daß
Christiane diesen
Unfall aus nächster Nähe mitangesehen hat (ebenso wie ihre
Mitschülerin
Monica Kümmerlen,
die Enkelin v.
Frau Biermann.)
Die Autos spielen in dem Leben dieses Kindes eine
verhängnisvolleRolle. Sie ist an sich sehr sensibel, und im
Untergrunde der kleinen Seele sieht es schon düsterer aus, als man
wünschen möchte und heilen
könnte.
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Ich habe mich gefreut, aus Deinen lieben Briefen zu
entnehmen, daß Du Dich allmählich wieder in den Tageslauf
hineinfindest. Jeden Tag ein kleiner Fortschritt im Befinden und
Leisten macht bis Weihnachten schon ein nettes Pöstchen aus.
Anstrengungen aus dem Wege zu gehen ist bekanntermaßen selbst im
Freundeskreise nicht leicht. Da mußt Du Dir aber nun dicke Haut
angewöhnen. Nicht wahr, bei Dunkelheit bleibst Du doch – mindestens
vorläufig – ganz zu Hause? Daß einen jemand nach Hause bringt, nützt
nämlich auch nicht immer. Bisher war ja der November so schön, wie
ich ihn höchstens 1924 erlebt habe. Aber es ist doch oft morgens
glatt auf der Straße und rauh in der Luft.
Die Frage nach
einer
Frau Becker hing zusammen
mit einer
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| Anpumpung durch "Unbekannt" im
Hambach bei Neustadt, womit ich wahrscheinlich
wieder hereingefallen bin.
Es ist nicht mehr sehr lange hin
bis zu demTage, für den mein nächster Besuch geplant ist: 3 Dezember
mittags. Ich freue mich, Dich wieder am gewohnten Ort antreffen zu
können. Wir müssen es so einrichten, daß keinerlei Anstrengung für
Dich entsteht. Das ist überhaupt für heute der wichtigste
kategorische Imperativ: "Pflege Dich mit allen Mitteln und vermeide
alles, was Dir schädlich ist"!
Zum Schluß noch die Notiz:
Hans Lindau, der Protokollist
der philos. Abende bei
Riehls, den ich tot
glaubte, hat wieder geschrieben.
Von uns dreien hier ist
Ida gesundheitlich noch weniger
gut dran als ich. Wir grüßen Dich mit vereinten Kräften.