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Heidelberg. 4. Juli
1954.
Mein einziger Freund!
Habe Dank für Deinen lieben Kartenbrief, der mir von Eurer
Rückkehr aus
Sigmaringen meldete. Ich
schreibe Dir schon wieder, damit Du nicht denkst, ich erwarte etwas
Schriftliches von Dir. Ich möchte Dir nur sagen, daß ich allmählich
wieder ins Gleichgewicht mit mir selbst komme, und nicht zum
wenigsten durch Deine Hilfe, die mir aus dem Geist Deiner Schriften
kommt, die immer auf den tragenden Grund des schwankenden Lebens
zurückweisen. Und mit dieser Einkehr ist mir wieder Mut und Kraft
gewachsen. Es war ein wahrer Rattenkönig von Miß
[2]
|geschick
und Unzulänglichkeiten, die über mich kamen. Und unbegreiflich war es
mir, daß es mich so nachhaltig umwerfen konnte, da ja doch die innere
Welt, die eigentliche Quelle des Lebens, davon nicht berührt
wurde.
Hier war heut zwischen Sonnenschein und Regengüssen ein
großes Sängerfest mit Rummelplatz und großem Aufmarsch durch die
Heidelberger Straße an meiner Ecke. Mit
Frau Buttmi und deren zwei
kleinen Großnichten von 3 u. 5 Jahren war ich vorhin auch dort, um
die Kinder Karussel fahren zu lassen. Frau B. hat sich zum Glück von
ihrem schlimmen Katarrh sichtlich erholt.
Sonst bin ich meist
still zu Haus und suche "mit Nutzen" zu lesen. Da kam mir durch
Frl. Seidel eine kleine Schrift
von
Richard Benz:
Schubert, der Vollender der
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| deutschen Musik; es ist ein Abschnitt aus seinem großen Werk
"Stunde der deutschen Musik" und will die Musik als Schicksal
begreifen, als Maß und Mitte für das Leben eines Volkes. – – Da
habe ich mir Deine kleine Schrift aus dem Jahre 1909 wieder vorgeholt und jetzt vermutlich mit mehr
Verständnis als damals gelesen. Da ist weit schlichter als bei Benz
gesagt, daß Musik in ihrer Vollendung eine Ursprache der Seele ist
von allumfassender Bedeutung. —
Du sprachst einmal von
Benz, der bei Euch einen
Vortrag halten wollte oder sollte. Warum wurde das wohl nichts? –
Hier wird jetzt
Wenke zu
Kerschensteiners Gedächtnis
sprechen. Ob er auch noch bis
Tübingen kommt?
Wohl kaum! – Am 1. Juni hat übrigens Benz hier den Ehrenbürgerbrief
von
Heidelberg bekommen und er ist auch
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| Mitglied der Akademie der Wissenschaften.
Die ganze
Freundschaft wird demnächst in Sommerfrische sein. Auch die
Hannelore wird von den Eltern
abgeholt. – Neugierig bin ich, wie sich die Sache mit
Hermann gestalten wird. Es ist
doch ganz gut, wenn man sich mal wieder über allerlei praktische
Dinge spricht.
Von Dir, mein geliebter Freund, hörte ich gern
bei Gelegenheit, was der Arzt an Deinen
Augen konstatierte. Und ich hoffe, er hat Dir was Heilsames geraten.
– Ob
Ida wieder die Ständchen
genossen hat?
Viel herzliche Grüße an
Susanne und
sie. Wie bekommt Euch dies
launenhafte Wetter? Ich wünsche Euch allen das Beste und hoffe, daß
Du es einrichten konntest, die beglückende Fülle der Glückwünsche
nicht zu einer Last werden zu lassen.