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Heidelberg.
30.III.55.
Mein geliebter
Freund!
Wenigstens einen Gruß möchte ich Dir
gleich noch nach Baden-Baden schicken, wohin
Ihr jedenfalls jetzt unterwegs sein werdet. Für Deine lieben Zeilen
aus Stuttgart danke ich Dir besonders, denn
sie waren eine gewisse Vorbereitung auf die Drucksache, die am
Dienstag kam.
Dieses Aufleben einer Zeit auswegsloser Nöte
erschreckte mich tief. Was kann Dich nur zu dieser Veröffentlichung
veranlaßt haben? –
Noch vor Deinem letzten Besuch am 13.III.
begegnete mir zufällig im Geheimfach des kleinen Schreibtisches ein
Dokument
[über der Zeile] aus gleichen Tagen, das
mir ganz fremd geworden war. Ich hätte
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| gern bei Deinem
Hiersein davon gesprochen, aber es kam nicht dazu. – Gestern abend
habe ich nun Deine Aufzeichnungen der Vorgänge gelesen und es waren
mir natürlich manche Einzelheiten nicht so genau bekannt, aber es
stieg dafür manche Erinnerung auf an persönliche Begegnungen, in
denen Du mir von den Ereignissen erzähltest. Als Gesamtresultat
bleibt mir der betrübende Eindruck, wie reif die geistige Verfassung
der Wissenschaftler war, nicht nur intellektuell, sondern auch
moralisch dem raffinierten Angriff des Nationalsozialismus zu
verfallen. – – –
– – Hier sitze ich eben im
warmen Sonnenschein am Sekretär, und hoffe, daß es bei Euch ebenso
sonnig ist und Ihr ein paar gute Tage dort verlebt. Ich höre mit
rechtem Bedauern, daß Du so unter der Häufung der Korrekturen
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| zu leiden hast. Konntest Du Dich nicht dagegen wehren? Denke
doch manchmal an
Kerschensteiner wie geruhig er die Post sich aufsammeln ließ!! Es ging
auch so. –
Aber die Menschen sind jetzt anders. Eben war
Frl. Dr. Clauß bei mir, die im
Haus einer Patientin Einspritzungen bei Art
[über der Zeile] hritis deformans macht, und die mir
sagte, daß sie Urlaub genommen habe, weil sie zu erschöpft sei. – Ich
bitte Dich, laß es so weit nicht auch kommen, sondern schone Dich,
wie Du es mir immer wieder empfiehlst, wo ich doch garnichts zu
leisten habe!
Ich wünsche Dir herzlich, daß Dir der Vortrag
heut abend zur Freude gelinge und Dir manch freundliche Begegnung
einbringe.
Grüße
Susanne
vielmals und freut Euch der Frühlingswärme,
wie ich!
Sei innig gegrüßt von
Deiner
Käthe.