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Tübingen, den 14. Mai
56.
Meine geliebte Freundin!
Die Eisheiligen scheinen nun vorüber zu sein. Da wirst Du Dich, so
lange die Blüte dauert, doch auch wohl einmal auf eine Bank
hinauswagen, von der Du etwas Hübsches siehst. Denn die Luft draußen
ist noch etwas anderes als Zimmerluft; man soll sich nicht von ihr
entwöhnen. Es sind ohnehin nur wenige Tage im Jahr, wo man im Freien
sitzen kann.
Die 4 Tage in Alpirsbach
waren bezaubernd. Ich habe stundenlang nur die Kirche mit ihren edlen
Formen in mich aufgenommen. Aber ein bißchen bin ich auch im Walde
aufwärtsgegangen. Da gilt auch: "der ist sehr bald allein."
Das Unglück in der
Familie[2]
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Franz empfinde ich sehr mit. Ich glaube allerdings, daß man in
jüngeren Jahren so etwas noch ganz überwinden kann. Schlimm ist nur
die Geduldsprobe und der Mangel an Selbstvertrauen, der lange
nachwirkt.
Unmittelbar nach unsrer Rückkehr hatten wir
Rektoratsübergabe mit Festessen der Honoratioren der Universität. Der
neue Rektor heißt
Schindewolf.
Nimmt man seinen Namen mit
Schadewaldt zusammen, so macht das einen
unheimlichen Eindruck mit Bezug auf die Tübinger Gesellschaft. Der
frühere Rektor
Eißer war
Jurist; dieser ist Geologe. Wir sind also aus der Eißerzeit in die
Eiszeit gekommen.
Tags darauf war Mittwochsgesellschaft mit
politischem Vortrag. Himmelfahrt hat
Schmeil seinen 60. Ge
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|burtstag gefeiert.
Mit Rücksicht auf den Festtagsverkehr konnte ich mich nicht zur
persönlichen Teilnahme entschließen. Am Samstag war
Litt von ca ½ 11 bis ½ 19 bei
uns. Er ist – aus bekannten Gründen – fast ununterbrochen auf Reisen.
Heute ist
Wenke zu erwarten und
die Witwe des zu früh
verstorbenen
Mackenroth,
Schwägerin des hiesigen
Harms.
Morgen nehmen wir beide an der Eröffnung des Gewerbelehrertages
teil und müssen deshalb schon sehr früh nach
Stuttgart fahren.
Zwischendurch wird
immer an kleinen Aufsätzchen gebastelt. Am Donnerstag soll das
Seminar zur Geschichte der deutschen Volksschule beginnen.
Am
Freitag und Samstag nach Pfingsten ist wieder Sitzung in
Bonn. Paßt es, wenn ich am Trinitatissonntag
von möglichst früh an in
Heidel[4]
|berg Station mache?
Pour le mérite ist erst am
18.VI, und damit verflechten sich manche andere Begegnungen in
Frankfurt und Köln.
Bei dem gleichmäßigen Wetter ging es
in Alpirsbach und hier mit den Augen recht
gut. Manchmal aber ist das Jucken und Stechen äußerst lästig.
Eigentlich ist das doch ganz etwas anderes als die Beeinträchtigung
der Sehfähigkeit?
Gestern war – der schönste Tag des Jahres!
Abschluß der Einkommensteuererklärung. Nächstes Jahr mache ich sie
nicht mehr, mindestens nicht selbst. Im ganzen Hause hier kann
niemand mehr addieren.
Am 24. Mai hat
Frau Biermann in
Kronberg, Oberurseler Str. 12 ihren 75.
Geburtstag. Bitte nicht vergessen!
Ich wünsche Dir ein
möglichst gutes Befinden. Du weißt, daß ich Deiner unablässig
gedenke. Mit herzlichen Grüßen, auch "von den anderen" Dein
Eduard
[li. Rand] Gestern
war Frau Trautz, Witwe des
Japanologen Trautz, (Kyoto) aus Karlsruhe
bei uns. Viele Erinnerungen.