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Tübingen, den 9. Dezember
56.
Meine geliebte Freundin!
Weihnachten rückt mit unheimlicher Schnelle näher. Du wirst Dich
darauf gefaßt machen müssen, daß Du diesmal um eine gemeinsame Feier
im Hause nicht herum kommst. Aber es bleibt ja immer noch Zeit genug
für das besinnliche Alleinsein.
Wir haben leider jetzt schon
ein zu stark besetztes Programm. Am Heiligen Abend soll es wie alle
Jahre gehalten werden, so Gott will. Am 1. Feiertag wird
der junge Afghane hoffentlich
kommen können, der uns so ganz besonders lieb ist. Ob
Landerbergers uns den 2. Feiertag opfern
wollen, steht noch offen. Am 27. gedachten wir nach
Alpirsbach zu
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| fahren (bis 29.XII.) Am
30. wird vermutlich bei
Bährs getauft
werden. Am 31. ist ein noch nicht persönlich bekannter junger Biologe
Andreas v. Müller wenigstens
angesagt – von
Göttingen. Am 2.I ist
die
Dr. Redlich aus
Hamburg zu erwarten.
Am 6.I muß ich nach
Bonn fahren, und in
diesem Zusammenhang ist ein kurzes, den beiderseitigen Kräften
entsprechendes Wiedersehen bei Vater Philipp in
Heidelberg geplant. (Vater Philipp hieß das
Militärgefängnis in
Berlin, Gegend
Lindenstraße.)
Das sind Entwürfe!
Mögen sie ausführbar sein!
Gestorben ist
der Mann
meiner Lieblingsschülerin bei
Böhm, der
Elisabeth
Borries, verehelichten Christ. Ebenso der Schriftsteller und
Romanverfasser
Hans Künkel, mit
dem ich in entfernter Verbindung stand.
Wir haben gute Abende
gehabt mit der Lektüre von
Carossa: "Kindheit und Verwandlungen einer Jugend".
Mit seiner Tochter
Eva
Kampmann-Carossa bin ich durch die Kondolation in Verbindung
gekommen.
In der Zeitung hast Du von der Verhaftung des
Prof. Harich in
Berlin[4]
| gelesen. Er ist eigentlich
ein Schüler von mir, allerdings kein regulärer, vielmehr
Bohémien-Kommunist. Aber 1944/5 hat er in m. Leben eine Rolle
gespielt, 1954 habe ich ihn in
Stuttgart
wiedergesehen.
In
Budapest habe ich
noch
einen Freund, um
den ich sehr in Sorge bin.
Für das Herz bekomme ich jetzt
Crataegus = Weißdorn. Ob es etwas wirkt, ist noch abzuwarten.
Alle hier grüßen Dich herzlich. Vermeide alle Anstrengungen, auch
mit Briefschreiben. Wo es Dir sehr am Herzen liegt, genügt eine
Ansichtskarte mit Gruß. Niemand kann mehr von Dir verlangen.
Mit innigen Wünschen bleibe ich
Dein
Eduard