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Heidelberg, 8. Juli
1956.
Mein geliebter Freund!
Nun ist schon eine volle Woche vergangen, seit ich mit recht
zwiespältigen Gefühlen wieder mein stilles Leben genieße; und
vorwärts gekommen ist inzwischen nichts. Jetzt vollends bei 20°R im
Zimmer und 35° am Außenthermometer sehe ich recht trübe auf die
Umzugspflichten der nächsten 2 Monate! Aber die Wärme, die meiner
Untätigkeit gut tut, hat mir heut Vormittag auf dem Balkon sehr
gefallen. Da überwiegt der Schatten bis zum Essen. — Wie magst Du den
Tag heute verbringen? Hoffentlich mit einem Auto in luftiger Höhe,
ohne "sportliche" Anstrengung. Auch für die Brief-Belastung hast Du
wohl eine erträgliche Methode gefunden; aber 60 gedruckte Danksagen
bei 200 empfangenen Postsachen ist recht wenig
[2]
| Hilfe! Man
könnte doch auf Verständnis für die besondere Lage rechnen und den sicher sehr warmen Text durch
ein paar persönliche Worte ergänzen! –
Was hat der
Dr. L. in
Eßlingen Dir raten können? Hängt die
jeweilige Verschlechterung nicht auch mit dem Atomstaub zusammen? Ich
glaube das für mich zu beobachten.
Die Karte vom
Hohenzollern ist noch meine tägliche Freude!
Wie herrlich ist der Blick über die Landschaft bis in die Ferne. –
Die Rohrbacher Volksschule macht eine Fahrt dorthin mit dem Autobus,
und
Frau Buttmi fragte, ob ich
mitwolle? Aber dazu habe ich zwar große Lust, aber keinen Mut! Von
Hedwig Mathy habe ich eine
bildhübsche Karte vom
Haslital,
wo ich s. Z. mit
Tanting war und wobei sie mir
auf der Rückfahrt in
Basel ohnmächtig wurde!
Aber der entzückte Bericht jetzt von Hedwig machte mich richtig
sehnsüchtig. Da halte ich mich lieber an schöne Erinnerungen aus
meinem langen Leben. Auch die musikalischen
[3]
| Erlebnisse mit
den Berliner Philharmonikern werden bei
[über der Zeile] mir noch viel seltener gewesen sein als
bei Dir. Aber gerade weil sie selten waren, blieben sie umso
eindrucksvoller. Kunstverständig war ich nicht im geringsten. Trotz
der Klavierstunden hatte ich garkeine fachkundige Anleitung, sondern
alles blieb Gefühl und jeweils Verständnis für die Sprache der Töne.
So erlebte ich z. B. einmal einen Abend, an dem
Bülow begeistert gefeiert
wurde. – Es war ja von
Pankow aus schon immer
an sich ein besonderes Unternehmen und ich glaube, ich könnte die
wenigen Male noch aufzählen.
Mein
Vater starb doch, wie ich 17 Jahre alt war und dann hörte doch
lange alles auf, und ich
ertrug überhaupt
keine Musik. —
Es ist ein rechtes Stückwerk mit dem Schreiben.
Erst unterbrach mich
Frl.
Specht aus
Rohrbach, die Schwester von
dem
Theologen
[über der Zeile] ? in
Leipzig, der mit Familie in der Bombenzeit
verschüttet wurde. Und jetzt, wo ich auf dem Balkon weiter
geschrieben habe, wird es zu dunkel. Ich will nur noch warten, bis
der erste Stern sichtbar wird. Die Dämmerung ist jetzt immer sehr
lange dunstig, und der Himmel nicht klar.
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Nun ist
es allmälig ½10 geworden, aber
ich möchte doch rasch noch fertigschreiben. Fertig bin ich freilich
niemals, denn im geeigneten Moment fällt mir das Wichtige doch nicht
ein, z. B. Stand jetzt das Buch
"Goldene Frucht" schon lange in der Obhut der
Schwester Maria, mit Adresse
für Boten von Quelle u. Meyer, ist aber nicht abgeholt. Ich habe
jetzt noch mehrere Packete zu machen, so möchte ich es gern
auch jetzt zurückschicken. Es ist doch
immer jemand bei Euch, der es annimmt Deiner übrigen Post wegen.
—
Ich stehe eigentlich immer sehr unter dem Eindruck dieser
apokalyptischen Zeit. Und die Episode mit
Herm, hat da kein Gegengewicht gegeben. Es war ein
so völliger Mangel an Einverständnis, daß es mich sehr deprimiert hat
und dabei eine Art Schuldgefühl zurückblieb. — Ich habe mich
möglichst beherrscht, aber ich bin doch sehr froh, daß diese
Angelegenheit jetzt vorüber ist, und der Transport weg.