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Tübingen, den
23.12.57.
Meine geliebte
Freundin!
Seit dem 14. Dezember habe ich nichts
mehr von Dir gehört, weder direkt noch indirekt. Du pflegtest sonst
einmal eine Karte zu diktieren.
Fräulein Héraucourt ist auch häufig bei Dir
gewesen. Sie hat mir heute einen Weihnachtsgruß gesandt, in dem aber
über Dein
gesundheitliches Befinden nicht
viel drinsteht.
Solltest Du mich vergessen haben, so möchte
ich durch diesen Weihnachtsgruß bekunden, daß ich in den kommenden
Festtagen, wenn es möglich wäre, noch intensiver zu Dir hindenke. Ich
wünsche Dir
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| einige freundliche Eindrücke, die die Kraft
haben mögen, Deine Stimmung zu verbessern. Das Weihnachtsfest ist ja
kein Tag der Zeitlichkeit, sondern der Überzeitlichkeit. Und so ist
dann in mir der ganze Gehalt von 54 Jahren des Verbundenseins
gegenwärtig, während Verdrießlichkeiten der letzten 3 Monate als
belanglos versinken. Ich hoffe, daß Du Dich auch zu dem Gefühl
aufschwingst: es gibt Dinge, die unsrer nicht wert sind.
Da
Frl. Héraucourt über die
Festtage nach
Tiefenthal fährt, wirst Du auf
anderen Besuch angewiesen sein, und der wird ja nicht ausbleiben.
Zuerst denke ich an
Frl. Hedwig
Mathy, die ja am
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| nächsten wohnt. Wie ist es aber
mit
Frau Gaßner und den
anderen, die sonst aus der Stadt oder von auswärts kamen?
Dr. Bähr wollte Dir selbst
schreiben. Ich habe ihm aber abgeraten, da es Dich belästigen
könnte.
Ich habe sehr anstrengende Tage gehabt. Am Freitag war
ich den ganzen Tag in
Stuttgart, bei einer
Pädagogischen Kommissionssitzung. Am Samstag waren
Susanne und ich wieder dort.
Ich hatte im Landesgewerbeamt eine Ansprache zu halten, vor einer
dankbaren Hörerschaft. Gestern waren wir beide in
Horb. Es ist sehr schmerzlich, den Verfall dort
mitanzusehen. Heute brachte die Morgenpost 50 Nummern. Das bedeutet
den Anfang der Jahreszeit,
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| in der jede andere Arbeit
unterbrochen werden muß zugunsten des Antwortens und Dankens. Ich bin
ja nun auch in vielem schwach geworden, wofür früher die Kräfte
ausreichten.
Morgen, am Heiligen Abend, werden wir beide ganz
allein sein.
Ida fährt nach
Horb und bleibt dort über Nacht. Am 1.
Feiertag gehen wir zu
Bährs.
Du
wirst auch in den Feiertagen viel schlafen. So kommt man über
Empfindungen hinüber, die vielleicht auf die Seele drücken, statt ihr
Erhebung zu bringen. Ich gehe Rührungen aus dem Wege. Die Lieder, die
gestern der städtische Chor (die Paupers) im Garten für uns gesungen
hat, konnten mich nicht fröhlich stimmen.
Susanne hat Dir selbst
geschrieben.
Ida sendet
herzliche Grüße. Und in welchem Sinne ich Dich grüße, das ist Dir
bekannt.