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Tübingen, den
24.II.60.
Meine geliebte
Freundin!
Zu Deinem 88. Geburtstag finde ich
mich mit vielen herzlichen Glückwünschen ein. Dabei werden alle
lieben Erinnerungen wieder wach – von 1903–1960. Das ist eine lange
Zeit. Es konnte nicht immer eine gute Zeit sein. Aber von Dir habe
ich nur Liebes erfahren. Und dafür danke ich Dir, heute wie jeden
Tag.
In jedem Einzelleben bleibt ein Kern unverwandelt,
und
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| auf den kommt es eigentlich an. Der Stoff, den man zu
bewältigen hat, ist in jedem Lebensalter ein anderer. Er wird nicht
einmal mit den Jahren leichter
Aber das Göttliche, dem wir näherzukommen ringen, bleibt ewig
unverwandelt. Das ist es auch allein, was wir einander aus unsren
Tiefen geben können. Und wiederum liegt hier der Dank, den ich Dir
sagen möchte.
Wir sind am Samstag aus
Alpirsbach, wo wir
Susannes Geburtstag gefeiert
haben, etwas erschöpft zurückgekommen. Der Februar war
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| nie
ein guter Monat für mich. Die Schneeblendung hat meinen Augen nicht
gut getan. Am 26.II. will ich wieder einmal zu
meinem Augenarzt nach
Eßlingen. Von seiner Auskunft hängt es ab,
wie bald ich nach
Heidelberg kommen kann. Ich
habe großes Verlangen danach.
Susanne ist, während ich dies schreibe, in einer
Aufführung des Ödipus durch unsre Gymnasiasten. Ich bin nicht
mitgegangen, weil ich mich schonen muß. Auch deswegen brauche ich
Ruhe, weil ich morgen in unsrem Mädchengymnasium 650 Schülerinnen
etwas aus meinem
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| Leben erzählen soll. Selbst so etwas
fällt mir jetzt schwer.